Erst mal bis zur nächsten Kuh...
Campingplatz eine Riesentafel mit dem Jakobsweg bis Le Puy.
Dreihundertfünfzig Kilometer. Ich schlage in meinem kleinen Führer nach - bis
zur spanischen Grenze sind es insgesamt 1170 Kilometer. Eine unvorstellbare
Strecke. Und Santiago? Noch mal 800 Kilometer! Nein, so weit will ich nicht
gehen, zu viel, zu weit, zu lang. Ich gehe erst mal bis La Côte-St .
André, dort gibt es eine Bahnlinie, und dann wird man sehen. Eine Kirche gab es
auch in Neydenz , aber ein Blick genügte, um mir klar
zu machen: dort konnte ich an Pfingsten nicht in den Gottesdienst gehen, muffig
und dunkel und öd war die Kirche, ein beklemmender Katholizismus, nein, dann
lieber in aller Frühe weiter. Und jetzt also La Motte und mein schmerzender
linker Knöchel.
Wenn
die Füße weh tun, muss man aufhören. Das hatte ich mir vorgenommen, und nach
dieser Devise hatte ich jetzt immerhin schon drei Wochen ohne Blasen an den
Füßen hinter mir. Also höre ich jetzt auf. „Gibt es hier im Ort eine
Übernachtungsmöglichkeit?“, frage ich ein Ehepaar, das ist einer der wenigen
Sätze, die ich in Französisch kann. Es sind die einzigen Menschen, die in
diesem Dorf auf der Straße sind. Die Frau antwortet in deutscher Sprache, sie
hat an meinem holprigen Französisch natürlich gleich gemerkt, wo ich herkomme.
Nein, sagt sie freundlich bedauernd, in diesem Dorf gibt es praktisch nichts,
kein Laden, kein Gasthaus, halt nur ein paar Häuser. „Aber wollen Sie bei uns
schlafen?“ Sie wechselt ein paar französische Sätze mit ihrem Mann - er kann
jetzt praktisch nicht mehr Nein sagen. Und so habe ich ein Quartier.
Marcelle
und Guy sind Schweizer aus Genf, die den Sommer in La Motte verbringen. Wir
sitzen am Tisch vor dem Haus, trinken Wasser und später Wein. „Sie können sich
hinlegen, wenn Sie sich beruhigen wollen“, sagt Marcelle. Und ich erkläre ihr
die Feinheiten der deutschen Sprache: „Sich beruhigen“ ist etwas anderes als
„sich ausruhen“, auch wenn es ganz ähnlich klingt. Es gibt viel zu lachen. Am
Abend kocht Marcelle noch etwas Einfaches zu essen, wie sie sagt — aber ich
habe in diesen Tagen schon gelernt, dass in Frankreich auch einfache Gerichte
aus mehreren Gängen bestehen, und Käse und Dessert und ein Kaffee einfach
dazugehören. Guy entpuppt sich als Biologielehrer und will mir am Abend noch
seine Diasammlung mit alpinen Pflanzen zeigen. „Eigentlich wollte ich ja nur
nach einer Übernachtung fragen“, sage ich vorm Schlafengehen. „Aber jetzt gibt
es hier nicht nur ein Bett für mich, sondern gleich noch ein Menü und ein
abendfüllendes Programm mit Diashow - ich bleibe unter diesen Umständen die
nächsten 14 Tage hier.“
Ein Lied in den Weinbergen
Ein Gîte
ist eine Herberge und die übliche Übernachtungsmöglichkeit für Wanderer in
Frankreich am Jakobsweg. Für ein paar Euro findet man dort ein Bett, meist im
Schlafsaal. Es gibt ein Kissen, den Schlafsack muss man selber beisteuern. Und
etwas zu essen kann man oft auch bekommen.
Mein
erster Gîte heißt „Edelweiß“ und ist am Berghang oberhalb des Rhônetals bei Seyssel . Dort
treffe ich Reinhard und Angelika, ein fröhliches Ehepaar aus Augsburg. Wir
sitzen auf der Terrasse beim Rotwein und erzählen von unseren Kindern, unserem
Beruf, unseren Gemeinden zuhause. Auf dem Jakobsweg ist man schnell per du . „Ich weiß noch nicht, ob ich wirklich den ganzen Weg
schaffe“, sage ich. „Mensch, Jürrrrrgen “, meint
Angelika, „geh den Weg bis nach Santiago, wenn du die Zeit hast! Wir haben nur
zwei Wochen und schaffen es höchstens bis nach Le Puy.“
Am
anderen Morgen geht jeder wieder seines Weges durch Weinberge im Rhônetal . Drei Tage lang treffen wir immer wieder
aufeinander, Reinhard, Angelika und ich. Spätestens am Abend im nächsten Gîte,
wo wir dann wieder beim Rotwein zusammensitzen, über den Tag uns austauschen
und auch versuchen, unser Französisch anzuwenden. „Die wesentlichen Dinge im
Leben werden uns geschenkt“, schreibt Angelika ins Gästebuch in der
Pilgerunterkunft. Und ich spüre jeden Tag mehr auf dieser Reise: Sie hat recht!
Hoch
über Yenne an der Kapelle St. Romain liest Reinhard einen Psalm vor. Weit ist der Blick über das Land mit den
Weinbergen, den Kirchen und Dörfern und den Bergen in der Ferne.
Wir
singen „Geh aus, mein Herz und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit“ - alle
Strophen, die wir auswendig singen können. Das sind Augenblicke, die man nicht
mehr vergisst.
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