Erwacht
zusammenfügte. Als meine Augen ihn voll erfassten, war es, als hätte ich ihn seit Wochen nicht gesehen. Das Bedürfnis, mich in seine Arme zu werfen, überwältigte mich fast.
Ich schaute zurück zu Phoenix. »Du hast mich dazu gebracht, Lincoln zu hassen.« Meine Unterlippe bebte und eine Träne lief mir über das Gesicht.
»Ich wusste nicht, dass sich die Verbindung bilden würde, bevor es passierte.« Phoenix’ Stimme war ernst. »Selbst nachdem wir … ich konnte spüren, was du für ihn empfindest, als du ihn heiltest. Ich konnte nicht riskieren, dich zu verlieren.«
»Und meine Gefühle für dich? Hast du sie beeinflusst?« Schon als ich die Frage stellte, wusste ich bereits die Antwort. Es lag nicht nur an Onyx’ Enthüllungen, dass meine Gefühle für Phoenix jetzt getrübt waren. Er antwortete nicht.
»Ich dachte, du sagtest, das wäre geschummelt«, sagte ich und wartete darauf, dass er mir sagte, ich hätte unrecht. Das tat er nicht.
Onyx fing an, zwischen uns herumzuspazieren, wobei er in den Folgen seiner Boshaftigkeit schwelgte. »Aber, aber, Phoenix, zier dich nicht so. Das war eine richtige Heldentat in Anbetracht ihrer Macht. Sie muss dir ihren Körper voll und ganz überlassen haben. Darf ich annehmen, dass sie dir ein einzigartiges Opfer dargebracht hat?«
»Das reicht«, warnte Lincoln mit einem bedrohlichen Knurren.
»Wir sind wohl eifersüchtig? Oder weigerst du dich einfach, es einzugestehen? Sag mir, Lincoln, wirst du sie je wieder mit denselben Augen anschauen? Wenn du weißt, dass sie ihren Körper zum ersten Mal einem Engel der Finsternis schenkte?«
Der letzte Teil meines Magens sackte vollends ab. Das schlimme Absacken. Das, wovon man sich nie mehr erholt. Meine Hand legte sich auf meinen Mund.
»Ja, der Finsternis! Du dummes Ding!« Onyx knirschte erwartungsvoll mit den Zähnen. »Oh, aber du musst dich doch selbst gefragt haben, Lincoln. Sag mir, hattest du etwa nicht deine eigenen Vermutungen?«
»Nicht«, warnte ihn Lincoln erneut, aber das stachelte Onyx nur noch mehr an.
»Er ist mächtig, unser Phoenix. Wie könnte es anders sein, mit so einer Mutter?«
Meine Gedanken rasten. Mutter? Engel hatten keine Mütter.
»Zu deiner Verteidigung lässt sich sagen, dass er tatsächlich schwieriger zu wittern ist als die meisten andern. Phoenix ist einzigartig. Sohn der Göttin der Nacht und des unsterblichen Menschen. Er fügt sich gut ein, weil er sein menschliches Erbe einsetzt, wenn es seinen Zwecken dient.«
Onyx ging um Phoenix herum und schlängelte sich dann wieder zurück zu mir. Ich versuchte, ihn im Auge zu behalten; ich wusste, dass Lincoln Joel beobachtete und Griffin die Übrigen abdeckte. Phoenix blieb still und stumm.
»Phoenix?« Ich schaute ihn an, bat ihn, mir das zu sagen, von dem ich jetzt wusste, dass er es nicht sagen würde.
Er schaute von mir zu Onyx, Zorn loderte in seinen Augen. »Ich hatte niemals eine Wahl, Violet. Alle anderen …«, er machte eine ruckartige Kopfbewegung zu dem Kreis der Verbannten hin, »… haben ihre Entscheidung getroffen, doch ich … ich war verurteilt, bevor ich überhaupt anfing, ich saß im Reich fest, verteilte Strafen, bis es mich aufzufressen begann. Als das passierte, warfen sie mich auf die Erde, wo ich verrotten sollte.«
Onyx hatte mir diese Geschichte erzählt. Alles ergab nun einen Sinn.
»Du hast eine Mutter.« Das nächste Wort brachte ich kaum heraus. »Lilith.«
»Die Mutter der Finsternis«, flüsterte mir Onyx ins Ohr. Ich zuckte zusammen, er stand jetzt direkt hinter mir. Ich hatte ihn nicht im Auge behalten. Als ich meinen Fehler erkannte, rammte er mir seine Klinge in den Rücken, stieß sie ganz durch meinen Körper, bis ich ihre Spitze aus meinem Bauch kommen sah. Ich schrie vor Schmerz – sowohl wegen Phoenix’ Verrat als auch wegen Onyx’ Klinge.
Er zog das Schwert mit einer sauberen Bewegung wieder heraus und ich stieß einen weiteren markerschütternden Schrei aus. Ich fühlte die Vibration der Klinge, als sie gegen die Knochen meiner Wirbelsäule schabte. Blut strömte aus meinem Körper, wärmte meine Haut und ließ mein Inneres erkalten.
Ich hörte Lincoln meinen Namen rufen und blickte auf; ich sah, dass er in einen wilden Kampf mit Joel verwickelt war. Alle kämpften. Mein Blick schwenkte durch den Raum, während meine Beine unter mir nachgaben. Der Zauber hielt noch. Die Leute lachten und tanzten auf der einen Seite des Raumes, während auf der anderen Seite ein erbarmungsloser
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