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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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der Stadt her langsam herankommen, den sie schon von weitem erkannte. Es war Herr Klingemann, der sie in der letzten Zeit öfter als früher anzureden pflegte. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren war er aus Wien in die kleine Stadt übergesiedelt; es hieß, daß er früher Arzt gewesen und seine Praxis wegen irgendeines Kunstfehlers oder eines noch böseren Versehens hatte aufgeben müssen. Andere behaupteten, daß er es überhaupt nie bis zum Doktor gebracht und schließlich als alter Student das Studieren aufgegeben. Er selbst gab sich als Philosophen aus, den das Leben in der Großstadt, nachdem er es bis zum Überdruß genossen, angewidert und der deshalb in die kleine Stadt gezogen war, wo er mit den Resten seines Vermögens anständig leben konnte. Er war jetzt kaum älter als fünfundvierzig, hatte noch seine guten Tage, sah aber meistens recht verwittert und unangenehm aus. Schon von weitem lächelte er der jungen Witwe zu, beeilte seine Schritte aber nicht und blieb endlich mit einem spöttischen Kopfnicken, das sein Gruß gegenüber jedermann war, vor ihr stehen.
    »Guten Abend, schöne Frau,« sagte er.
    Sie erwiderte seinen Gruß. Es war heute einer jener Tage, wo er wieder auf Jugend und Eleganz Anspruch zu machen schien. Er war in einen dunkelgrauen Gehrock wie eingeschnürt und hatte auf dem Kopf einen schmalkrempigen, braunen Strohhut mit schwarzem Band, dazu trug er eine ganz kleine rote Krawatte, die etwas schief saß. Nachdem er eine Weile geschwiegen und seinen leicht angegrauten blonden Schnurrbart hinauf und hinunter gezogen hatte, sagte er: »Sie kommen wohl von dort oben, gnädige Frau?« Er wies mit der einen Hand, ohne seinen Kopf oder nur seine Augen zu wenden, gewissermaßen verächtlich über seine Schulter nach rückwärts in die Gegend des Friedhofs. Herr Klingemann galt in der ganzen Stadt als ein Mann, dem nichts heilig war; und Berta mußte, als er so vor ihr stand, an allerlei denken, was man von ihm erzählte. Es war bekannt, daß er ein Verhältnis mit seiner Köchin hatte, die er übrigens »Wirtschafterin« nannte, zugleich ein anderes mit einer Tabaktrafikantin, welche ihn mit einem Hauptmann des hier stationierten Regiments betrog, was er Berta mit stolzer Trauer erzählt hatte; außerdem gab es einige heiratsfähige Mädchen in der Stadt, die für ihn ein gewisses Interesse hegten. Spielte man darauf an, so pflegte er höhnische Bemerkungen über das Institut der Ehe im allgemeinen zu machen, was ihm zwar von manchem übel vermerkt wurde, im ganzen aber doch den Respekt vor ihm erhöhte.
    »Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht,« sagte Berta.
    »Allein?«
    »Oh nein, mit dem Buben.«
    »Richtig, da ist er ja! Grüß dich Gott, kleiner Sterblicher.« Er sah, während er das sagte, über den Kleinen hinweg. »Darf man sich auf einen Augenblick zu Ihnen setzen, Frau Berta?« Er sprach ihren Namen spöttisch aus und setzte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Ich habe Sie heute Vormittag Klavier spielen gehört,« fuhr er fort. »Wissen Sie, was ich für einen Eindruck habe? Daß Ihnen die Musik alles ersetzen muß.« Er wiederholte: »Alles« und sah sie dabei an, daß sie rot wurde. Dann fuhr er fort: »Wie schade, daß ich so selten Gelegenheit habe, Sie zu hören! Wenn ich nicht zufällig an Ihrem offenen Fenster vorbeigehe, während Sie spielen –«
    Berta merkte, daß er immer näher an sie herangerückt war und mit seinem Arm den ihren berührte. Sie rückte unwillkürlich weg. Plötzlich fühlte sie sich von rückwärts umschlungen, ihren Kopf über die Lehne der Bank zurückgebeugt, eine Hand über ihre Augen gehalten. Einen Moment lang hatte sie die Empfindung, als fühlte sie die Hand Klingemanns über den Augenlidern und rief: »Aber sind Sie denn verrückt!« Die lachende Stimme eines Knaben hinter ihr erwiderte: »Nein, wie komisch das ist, wenn du zu mir ›Sie‹ sagst, Tante Berta!«
    »So laß mich doch wenigstens die Augen aufmachen, Richard!« sagte Berta und versuchte, die Hände von ihren Augen zu entfernen; dann wandte sie sich um und fragte: »Kommst du vom Hause?«
    »Ja, Tante, da hab ich dir auch die Zeitung mitgebracht.« Berta nahm ihm das Blatt aus der Hand und begann darin zu lesen. Indes stand Klingemann auf und wandte sich zu Richard. »Haben Sie schon Ihre Aufgaben gemacht?« fragte er ihn.
    »Wir haben überhaupt keine Aufgaben mehr, Herr Klingemann, denn im Juli haben wir Matura.«
    »Also wirklich, das nächste Jahr sind Sie schon

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