Erzaehlungen
Grauens in des Bruders Antlitz im tiefsten erschüttert, beherrschte sich nicht länger, trat ganz nah an ihn heran, um ihn zu umarmen und ihn durch die rückhaltlose innigste Gebärde seiner brüderlichen Zärtlichkeit zu versichern. Robert aber, des Bruders kühle Hände an seinem Halse fühlend, zweifelte nun nicht mehr, daß der gefürchtete, daß der Augenblick der höchsten, der entsetzlichsten Gefahr gekommen sei, gegen die in jeder Weise sich zu wehren durch menschliche und göttliche Gesetze erlaubt, ja geboten war. In der Rocktasche spannte er vorsichtig den Hahn seiner Waffe, und während der Bruder ihm am Halse hing, setzte er ihre Mündung an Ottos Brust, der jetzt erst merkte, was sich vorbereitete. Aber im Augenblick, da er erkannte, was im Werk war, nach dem Lauf der Waffe greifen, zurückweichen und rufen wollte, war ihm die Kugel mitten ins Herz gedrungen, und er sank lautlos auf den Boden hin.
Robert aber, noch nicht zum Bewußtsein seiner Tat gelangt, nur erst in der Ahnung des Grauenhaften, Unwiderruflichen, das geschehen war, und in einer dumpfen Angst, noch hier an Ort und Stelle zu erfassen, was er getan, stürzte an der Leiche des Bruders vorbei durch den dunklen Gang, die Treppe hinab, über den Flur, durch das seit Ottos Ankunft noch nicht wieder geschlossene Haustor, lief über den menschenleeren Marktplatz, durch die lange Dorfstraße in die freie Landschaft hinaus, stapfte durch den hohen Schnee, warf den Mantel ab, der ihn im Laufen hinderte, stürmte immer fort, immer weiter, nichts in sich als den festen Willen, niemals zur Besinnung zu kommen – durch eine klingende blaue Nacht, die niemals für ihn enden durfte. Und er wußte, daß er diesen gleichen Weg schon tausende Male dahingerast und daß es ihm bestimmt war, ihn noch tausende Male bis in alle Ewigkeit durch klingende blaue Nächte hinzufliehen.
Nicht weniger als sieben volle Wegstunden von dem Ort entfernt, aus dem er geflohen war, an einem steinigen Abhang, der zu der fast vereisten Ache hinabführte, den Kopf nach abwärts gewandt, mit zerschundenen Händen, getrocknetes Blut an Scheitel und Stirn, entdeckte man drei Tage später seinen entseelten Leib.
Die Aufzeichnungen, die man in seiner Reisetasche fand, wurden dem Gericht übergeben und auszugsweise veröffentlicht. Der Fall in all seiner Düsterkeit lag so klar wie möglich: Verfolgungswahn, wer konnte daran zweifeln? Doktor Leinbach aber hatte seine eigenen Gedanken darüber, und er zögerte nicht, sie seinem mit Sorgfalt geführten Tagebuch anzuvertrauen. »Mein armer Freund«, schrieb er, »hat an der fixen Idee gelitten, so heißt es ja wohl, daß er durch seinen Bruder sterben müsse; und der Gang der Ereignisse hat ihm am Ende recht gegeben. Wie es allmählich dahin kommen sollte, hatte er freilich nicht vorauszusehen vermocht. Aber die Ahnung war in ihm gewesen, das läßt sich nicht abstreiten. Und was sind Ahnungen? Doch nur Gedankenfolgen innerhalb des Unbewußten. Die Logik im Metaphysischen, könnte man vielleicht sagen. Wir aber reden von Zwangsvorstellungen! Ob wir dazu berechtigt sind, ob dieses Wort – wie so manche andere – nicht eigentlich eine Ausflucht bedeutet – eine Flucht ins System aus der friedlosen Vielfältigkeit der Einzelfälle –, das ist eine andere Frage. Und ein Fall, wie der meines armen Freundes – – –«
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