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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Commercial vielleicht noch haben könnte, wird verschwinden, wenn wir uns der Stunde erinnern, zu welcher das Mädchen ausging.
    ›Sie ging gerade zu einer Zeit aus‹, sagte der Commercial , ›in der die Straßen am belebtesten sind.‹ Dies war nicht der Fall. Marie Rogêt verließ das Haus ihrer Mutter um neun Uhr morgens. Zu dieser Zeit sind die Straßen allerdings bevölkert, jedoch nur an Wochentagen .
    Sonntags um neun Uhr sind die meisten Leute zu Hause, da sie sich um diese Zeit zum Kirchgang vorbereiten . Keinem Beobachter wird es entgangen sein, wie eigentümlich verödet eine Stadt des Sonntagmorgens zwischen acht und zehn Uhr aussieht. Zwischen zehn und elf sind die Straßen wieder belebt, jedoch, wie gesagt, nicht um die oben bezeichnete Stunde.
    Noch ein weiterer Punkt beweist die ungenügende Beobachtungsgabe des Commercial . An einer Stelle heißt es: ›Aus einem der Unterröcke des unglücklichen Mädchens war ein zwei Fuß langer und ein Fuß breiter Streifen herausgerissen; den hatten die Täter ihr fest um den Hals gebunden und hinten am Kopf zusammengeknotet, wahrscheinlich, um sie am Schreien zu hindern. Dies konnten nur Burschen getan haben, die keine Taschentücher bei sich hatten.‹ Ob diese Annahme begründet ist oder nicht, werden wir später sehen; jedenfalls will der Verfasser mit ›Burschen, die keine Taschentücher bei sich hatten‹, die niedrigste Klasse von Bösewichtern bezeichnen.
    Verbrecher dieser Sorte haben jedoch stets Taschentücher, selbst, wenn sie so heruntergekommen sind, daß sie kein Hemd mehr besitzen. Sie werden selbst Gelegenheit gehabt haben zu bemerken, daß diesem Gesindel das Taschentuch neuerdings ein unentbehrliches Handwerkszeug geworden ist.«
    »Und was sollen wir von dem Artikel des Le Soleil halten?« fragte ich.
    »Daß es jammerschade ist, daß sein Verfasser nicht als Papagei geboren wurde, er wäre jedenfalls eine Zierde seines Geschlechts geworden. Er hat bloß die bereits bekannten Umstände und Ansichten mit einem allerdings lobenswerten Fleiß aus den übrigen Zeitungen gesammelt und in seinem Blatte wiederholt. Er bemerkt unter anderem: ›Die gefundenen Gegenstände lagen offenbar schon wenigstens drei bis vier Wochen an der Fundstelle, denn sie waren vom Regen ganz verschimmelt, klebten vielfach zusammen und waren vollständig verdorben. Es kann daher nicht mehr zweifelhaft sein, daß der Schauplatz dieses gräßlichen Verbrechens entdeckt ist.‹
    Diese von dem Le Soleil wiederholten Tatsachen haben meine Zweifel jedoch nicht im geringsten zerstreut, und wir werden diese mit einem anderen Teil der Angelegenheit noch eingehender Prüfung unterwerfen.
    Augenblicklich müßten wir unsere Aufmerksamkeit auf einige andere Punkte richten. Es ist Ihnen ohne Zweifel aufgefallen, daß der Leichnam mit größter Nachlässigkeit untersucht worden ist.
    Allerdings wurde die Frage der Identität rasch erledigt oder hätte wenigstens rasch erledigt sein sollen; nur hätte man sich auch noch über einige andere Punkte Gewißheit verschaffen müssen: War der Leichnam irgendwie beraubt worden? Trug die Ermordete bei ihrem letzten Ausgang Schmucksachen, und fand man dieselben an dem Leichnam wieder? Dies sind wichtige Fragen, welche die gerichtliche Nachforschung jedoch vollständig unberücksichtigt gelassen hat. Auch über ein paar weitere Momente von Bedeutung hat sie sich nicht die geringste Aufklärung zu verschaffen gesucht. Da müssen wir versuchen, uns selbst Auskunft zu geben. Vorerst wollen wir den Verdacht gegen St. Eustache noch einmal prüfen. Ich selbst hege nicht den geringsten Argwohn gegen ihn, doch wollen wir streng methodisch verfahren und zusehen, ob sein Alibi-Beweis für den verhängnisvollen Sonntag lückenlos und richtig ist. Beweise dieser Art können zu leicht gefälscht sein. Stimmt hier jedoch alles, so können wir bei unseren weiteren Untersuchungen von St. Eustache absehen.
    Sein Selbstmord ist nur verdächtig, wenn sein Alibi eine Lücke oder eine falsche Angabe aufweisen sollte – im anderen Falle hat er so wenig Ungewöhnliches an sich, daß wir über ihn hinweg ruhig die Linie gewöhnlicher Analyse verfolgen dürfen.
    Bei der weiteren Erforschung des Geheimnisses wollen wir für das erste von dem Kern der Tragödie absehen und unsere Aufmerksamkeit auf ihre äußeren Umrisse konzentrieren. Nur zu häufig begeht man bei dergleichen Untersuchungen den Irrtum, lediglich die unmittelbaren Ereignisse zu beachten und die

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