Erzählungen
begleitenden und zufälligen nicht zu berücksichtigen. Unsere Gerichte haben die schlechte Gepflogenheit, Zeugenbeweis und Diskussion auf das scheinbar Wesentliche eines Falles zu beschränken. Und doch hat alle Erfahrung gezeigt, und gewissenhafte Beobachtung wird es immer beweisen, daß sich ein großer, ja, vielleicht der größte Teil der Wahrheit in dem scheinbar Unwesentlichen verbirgt. Vom Geiste, wenn auch nicht gerade vom Buchstaben dieses Prinzips geleitet, hat sich die moderne Wissenschaft bemüht, auch das Unvorhergesehene berechnen zu lernen.
Aber Sie verstehen mich vielleicht nicht. Die Geschichte menschlicher Erkenntnis hat unaufhörlich gezeigt, daß wir begleitenden, zufälligen, beiläufigen Ereignissen zahlreiche, höchst wertvolle Entdeckungen verdanken, so daß es endlich eine Notwendigkeit geworden ist, im Interesse des Fortschritts Erfindungen, die durchaus zufällig und nicht vorherzusehen sind, in unsere Berechnungen mit aufzunehmen. Es ist nicht mehr philosophisch, die Zukunft nur nach der Vergangenheit zu berechnen. Der Zufall spielt bei jeder Entwicklung eine gewaltige Rolle, und wir haben gelernt, ihn einer genauen Berechnung zu unterziehen. Wir schließen das Unvorhergesehene – Umstände, an die wir nicht gedacht – in eine mathematische Formel ein.
Ich wiederhole noch einmal: der größte Teil aller erlangten Wahrheit ist aus der Erforschung ihrer Begleitumstände gewonnen worden.
Dies ist eine Tatsache an der sich nicht rütteln läßt. In Übereinstimmung mit dem Prinzip, welches aus dieser Tatsache zu uns spricht, verlasse ich jetzt den breit getretenen und bisher unfruchtbaren Boden des Ereignisses selbst und übertrage meine Untersuchung auf die gleichzeitigen Umstände, die dasselbe begleiteten. Während Sie den Alibi-Beweis St. Eustaches einer neuen Prüfung unterziehen, werde ich die Zeitungen noch eingehender, als Sie es getan, durchlesen. Bis jetzt haben wir bloß das Feld der Untersuchung rekognosziert, aber es müßte sonderbar zugehen, wenn ein genaues Durchstudieren der Zeitungen, wie ich es vorhabe, uns nicht einige kleine Anhaltspunkte liefern, uns sagen sollte, wohin wir den Lauf unserer Untersuchungen nun eigentlich zu richten haben.«
Ich kam Dupins Aufforderung nach und untersuchte den Alibi-Beweis St. Eustaches mit der denkbar größten Sorgfalt. Er war vollkommen unanfechtbar und stellte die Unschuld des Verdächtigen außer Zweifel. Mein Freund vertiefte sich mittlerweile mit einer Beharrlichkeit, die mir völlig unnütz schien, in die Lektüre der verschiedenen Zeitungen. Nach Verlauf einer Woche legte er mir die folgenden Auszüge vor:
›Vor ungefähr drei und einem halben Jahre erregte das Verschwinden derselben Marie Rogêt aus dem Parfümerieladen des Herrn LeBlanc im Palais Royal ähnliches Aufsehen. Nach Verlauf einer Woche erschien sie jedoch wohl und munter wieder hinter ihrem gewohnten Ladentisch, nur bemerkte man an ihr eine leichte, etwas ungewöhnliche Blässe. Herr LeBlanc und ihre Mutter erklärten, daß sie die Zeit über bei einer Verwandten auf dem Lande zu Besuch gewesen sei, und bald war die ganze Sache vertuscht. Wir vermuten, daß ihr jetziges Verschwinden auch nur auf einen ähnlichen Streich zurückzuführen ist, daß wir sie nach Verlauf einer Woche oder eines Monats wieder unter uns sehen werden.‹
Abendzeitung , Montag, den . Juni
›Eine gestrige Abendzeitung weist auf ein früheres geheimnisvolles Verschwinden von Fräulein Rogêt hin. Es ist jedoch bekannt, daß sie die Zeit, während welcher sie aus dem Parfümerieladen des Herrn LeBlanc verschwunden war, bei einem jungen, wegen seiner Ausschweifungen übel berüchtigten Seeoffizier zugebracht hat. Eine gute Vorsehung führte sie jedoch, wahrscheinlich infolge eines Streites, wieder zu ihren Angehörigen zurück. Wir kennen den Namen des fraglichen Lothario, welcher sich augenblicklich in Paris aufhält, unterlassen es jedoch aus leicht begreiflichen Gründen, denselben zu nennen.‹
Merkur , Dienstagmorgen, den . Juni
›Vor drei Tagen wurde in der Umgegend der Stadt ein grauenhaftes Verbrechen verübt. Ein Herr, welcher in Gesellschaft seiner Frau und Tochter von einem Spaziergange zurückkehrte, ließ sich in der Dämmerung von sechs jungen Leuten, welche am Seineufer auf und ab ruderten, über den Fluß setzen. Als sie das andere Ufer erreicht hatten, stiegen die drei Passagiere aus, um ihren Heimweg fortzusetzen. Kaum hatten sie das Boot aus dem
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