Erzählungen
Gesicht verloren, als die Tochter bemerkte, daß sie ihren Sonnenschirm in ihm liegen gelassen hatte. Sie eilte zurück, um ihn zu holen, wurde jedoch von den Buben ergriffen, in den Strom hinausgefahren, geknebelt, auf das abscheulichste mißhandelt und endlich unweit der Stelle, an welcher sie mit den Eltern in das Boot gestiegen war, wieder ausgesetzt. Die Schurken sind entwichen, doch ist die Polizei auf ihrer Spur und wird hoffentlich bald zu ihrer Verhaftung schreiten können.‹
Morgenblatt , Mittwoch, den . Juni
›Man hat uns von mehreren Seiten angedeutet, daß Mennais der Urheber des kürzlich begangenen gräßlichen Verbrechens sei; aber da dieser Herr von dem Gericht für unschuldig erklärt worden ist, und unsere Korrespondenten zuweilen mehr Eifer als Gründlichkeit an den Tag legen, halten wir es nicht für rätlich, diese Vermutungen zu veröffentlichen.‹
Morgenblatt , Sonnabend, den . Juni
›Aus verschiedenen Quellen haben wir mehrere überzeugend geschriebene Mitteilungen erhalten, welche es fast als gewiß erscheinen lassen, daß die unglückliche Marie Rogêt einer der zahlreichen Banden roher Bösewichter zum Opfer gefallen ist, die sonntags die Stadt unsicher machen. Wir selbst stimmen dieser Ansicht entschieden bei.
Und wir werden Gelegenheit nehmen, einige der angeführten Gründe für diese Annahme in unserem Blatt abzudrucken.‹
Abendzeitung , Dienstag, den . Juni
›Am Montag hat ein beim Zollamt beschäftigter Schiffer ein leeres Boot die Seine herunterschwimmen sehen. Die Segel lagen auf dem Boden des Bootes. Der Schiffer befestigte das Fahrzeug an der Anlegestelle unter den anderen, zum Zollamte gehörigen Booten. Am folgenden Morgen war es von dort verschwunden, das Ruder liegt noch auf dem Zollamt.‹
Le Diligence , Donnerstag, den . Juli
Die verschiedenen Auszüge schienen mir nicht allein ganz bedeutungslos, es wurde mir sogar nicht einmal klar, inwiefern sie bei unseren Nachforschungen von Nutzen sein sollten. Ich wartete also auf Aufklärung von seiten Dupins.
»Augenblicklich hat es keinen Zweck für uns«, begann er, »bei dem ersten oder zweiten zu verweilen. Ich habe diese nur abgeschrieben, um Ihnen einen Begriff von der außerordentlichen Nachlässigkeit der Polizeibeamten zu geben, die, wenn ich den Präfekten recht verstand, es nicht einmal für nötig erachtet haben, den Marineoffizier, auf welchen eins der Blätter anspielt, einem Verhör zu unterziehen. Und doch wäre es der reine Blödsinn, zu behaupten, daß ein Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Verschwinden der Marie Rogêt durchaus ausgeschlossen wäre.
Wir wollen annehmen, daß Mariens erster rätselhafter Aufenthalt mit einem Streit zwischen den Liebenden geendet habe und daß das junge Mädchen infolge eines solchen, sagen wir Zerwürfnisses wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Nun können wir uns eine zweite Entfernung vom Hause, sobald wir wissen, daß eine solche abermals stattgefunden hat, viel eher als die Folge erneuter Anträge des betreffenden ersten Liebhabers erklären, als der irgendeines anderen zweiten. Mit anderen Worten: es ist bei weitem wahrscheinlicher, daß das zweite Verschwinden seinen Grund in der Wiederauffrischung eines alten Liebesverhältnisses als in dem Anfang eines neuen hat; auch ist die Annahme zehnmal vernünftiger, daß ein Mann, welcher der Marie schon einmal einen Fluchtvorschlag gemacht hat, denselben wiederholt, als daß ihr ein zweiter mit ganz demselben Antrag naht.
Und hier muß ich Sie auf die Tatsache aufmerksam machen, daß die Zeit zwischen der ersten nachgewiesenen und der zweiten mutmaßlichen Flucht um einige Wochen länger ist, als die, während welcher unsere Kriegsschiffe zu kreuzen pflegen. Hatte der Liebhaber seine erste Schurkerei nicht vollenden können, weil er abreisen mußte, und hat er nun den ersten Augenblick nach der Rückkehr dazu benutzt, seine unterbrochenen verbrecherischen Pläne wiederaufzunehmen und zur Ausführung zu bringen? Von alledem wissen wir nichts!
Sie werden jedoch einwenden, daß in dem zweiten Fall, um den es sich hier handelt, keine Entführung stattfand. Gewiß nicht! – Aber das schließt nicht aus, daß eine solche Absicht vorgelegen hat und nur vereitelt worden ist. Außer St. Eustache und vielleicht noch Beauvais sehen wir keine anerkannten und ehrenhaften Bewerber um Mariens Hand. Nicht das geringste Gerücht spricht von einem dritten. Wer ist nun der heimliche
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