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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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begleitet zu sein, eine Weile anhielt, bis sich nach langer Zeit und unvermittelt in mir ein Gedanke erhob, den ich mit schauderndem Entsetzen als einen Versuch erkannte, mir über meinen Zustand bewußt zu werden. Dann faßte mich plötzlich der heiße Wunsch, wieder in Bewußtlosigkeit zurückzuversinken. Doch nun schien meine Seele plötzlich ganz aufzuwachen, und ich machte eine erfolgreiche Anstrengung, mich zu bewegen. Und ich erinnerte mich deutlich an die Verhandlung, die Richter, die schwarzen Draperien, an das Urteil, an meine Ohnmacht. Und doch vergaß ich noch einmal wieder mich selbst, die Zeit und den Raum, vergaß alles, dessen ich mich in späteren Tagen mit unsäglicher Mühe wieder zu erinnern versuchte.
    Bis jetzt hatte ich meine Augen noch nicht geöffnet. Ich fühlte nur, daß ich ohne Fesseln auf dem Rücken lag. Als ich meine Hand ausstreckte, fiel sie schwer auf irgend etwas Feuchtes, Hartes. Mehrere Minuten lang ließ ich sie liegen, während ich zu erraten suchte, wo und in welchem Zustand ich mich befände. Ich verlangte danach, um mich zu schauen, doch wagte ich es nicht, denn ich fürchtete den ersten Blick auf die Gegenstände, die mich umgeben könnten. Zwar graute mir im Grunde nicht davor, gräßliche Dinge zu erblicken, ich schauderte vielmehr vor Angst, vielleicht gar nichts zu sehen.
    Endlich riß ich in wilder Verzweiflung meine Augen auf und fand meinen grauenhaften Gedanken bestätigt. Die Finsternis der ewigen Nacht umschloß mich. Ich rang nach Atem, denn es schien mir, als ob die Undurchdringlichkeit der Dunkelheit mich wie eine schwere Last bedrücke und ersticken wolle. Ich blieb regungslos liegen und machte eine Anstrengung, meinen Verstand zu Rate zu ziehen. Ich erinnerte mich an Einzelheiten der Gerichtsverhandlung, an ihren ganzen Verlauf, und versuchte dann von diesem Punkte aus, meinen wahren Zustand zu erkennen. Ich wußte, daß das Urteil gesprochen worden war, und mir schien, als sei seit diesem Augenblick eine lange Zeit verstrichen. Doch hielt ich mich nicht eine Sekunde lang für tot.
    Eine solche Vorstellung ist, trotz allem, was darüber geschrieben sein mag, bei einem lebendigen Menschen einfach ausgeschlossen – doch wo und in welchem Zustand befand ich mich? Die zum Tode Verurteilten wurden, wie ich wußte, gewöhnlich während der Autodafés umgebracht, und ich hatte gehört, daß in der Nacht nach dem Urteilsspruch ein solches abgehalten werden sollte. Hatte man mich wieder in mein Gefängnis zurückgebracht, um mich für die nächste Opferung, die erst in ein paar Monaten stattfand, aufzusparen? Ich sah sofort ein, daß dies nicht sein könne. Man hatte ja Opfer nötig gehabt. Überdies war meine Zelle, wie in allen Gefängnissen zu Toledo, mit Steinen gepflastert und dem Licht nicht jeder Eintritt verwehrt gewesen.
    Plötzlich trieb mir ein gräßlicher Gedanke alles Blut zum Herzen und stieß mich für eine kurze Zeit wieder in Bewußtlosigkeit. Als ich wieder zu mir kam, sprang ich auf meine Füße; jede Fiber in mir bebte. Ich griff mit meinen Armen wild nach allen Richtungen hin.
    Nichts fühlte ich; doch zitterte ich, einen Schritt zu tun: aus Furcht, an die Wände eines Grabes zu stoßen. Schweiß drang mir aus jeder Pore und stand in dicken, kalten Tropfen auf meiner Stirn. Die Angst der Ungewißheit wurde zum Schluß unerträglich, und ich wagte mich vorsichtig vorwärts, streckte die Arme aus und starrte so angestrengt, daß meine Augen fast aus ihren Höhlen springen wollten, vor mich hin, in der Hoffnung, einen wenn auch noch so schwachen Lichtstrahl zu entdecken. Ich tat mehrere Schritte, doch blieb alles dunkel und leer. Ich atmete etwas freier. Es schien ja, als habe man mich doch nicht dem gräßlichsten aller Tode überliefert.
    Und während ich nun vorsichtig vorwärtsschritt, erwachten, überstürzten sich in meinem Geist tausend Erinnerungen an das, was ich von den Schrecken Toledos gehört hatte. Man erzählte schauerliche Dinge von den Gefängnissen – mir waren sie eigentlich immer wie Fabeln erschienen, Fabeln, die zu gräßlich waren, um wiederholt zu werden. Hatte man mich in dieser unterirdischen Welt dem Hungertode preisgegeben? Oder welches vielleicht noch gräßlichere Schicksal erwartete mich? Daß der Tod – und zwar ein bitterer, grausamer Tod – das Ende sein werde, daran zweifelte ich, da ich ja meine Richter kannte, nicht einen Augenblick. Ich dachte nur darüber nach, in welcher Gestalt und wann er sich mir nahen

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