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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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sie die Ströme der Ereignisse von vornherein in abweichende Richtung bringt – wie denn auch in der Arithmetik ein an sich geringfügiger Irrtum durch die verschiedenen Multiplikationen zuletzt zu einem Resultat führen kann, das von dem wirklichen Ergebnis erstaunlich weit entfernt ist.
    Und bezüglich des ersten Teiles dürfen wir nie vergessen, daß gerade die Wahrscheinlichkeitsrechnung, derer ich mich bedient habe, den Gedanken an eine Weiterführung der Parallele ausschließt, und zwar mit um so größerer Bestimmtheit, da diese Parallele schon von vornherein ungewöhnlich ausgedehnt und exakt gewesen ist. Diese letztere Behauptung scheint an sich einen Widerspruch zu enthalten, und bis heute haben eigentlich nur die Mathematiker begriffen, daß dem nicht so ist, obgleich sie aus einem ihnen fremden Gebiete hervorgegangen ist. Nichts ist zum Beispiel schwieriger, als einem Leser, der sich nicht viel mit dergleichen Berechnungen beschäftigt hat, zu beweisen, daß, wenn ein Würfelspieler zweimal hintereinander die Sechs geworfen hat, diese Tatsache ein genügender Grund ist, zu wetten, daß er zum drittenmal die Sechs nicht werfen wird. Auf den ersten Blick scheint sich diese Annahme nicht mit dem gesunden Menschenverstand vereinigen zu lassen. Man kann nicht einsehen, warum die zwei Würfe, die schon getan sind und nun vollständig der Vergangenheit angehören, auf einen Wurf Einfluß haben können, der noch in der Zukunft liegt. Die Wahrscheinlichkeit, nochmals sechs zu werfen, scheint genau ebenso groß zu sein wie in jedem beliebigen anderen Moment, das heißt: nur dem Einfluß der fünf anderen noch möglichen Würfe zu unterliegen. Dies scheint eine Wahrheit und so offenbar zu sein, daß jeder Versuch, sie zu widerlegen, viel eher mit spöttischem Lächeln als aufmerksamem Interesse aufgenommen wird. Auf diesen hier angedeuteten, oft folgenschweren Irrtum kann ich – da der Raum, der mir zu Gebote steht, es nicht zuläßt – unmöglich weiter eingehen: für den Philosophen wäre es auch gar nicht nötig. Es genügt, hier zu sagen, daß dieser Irrtum zu der unendlichen Reihe von Irrtümern gehört, die sich die Vernunft in ihrem unglückseligen Hang, die Wahrheit in Einzelheiten zu suchen, selbst in den Weg geworfen hat!

DIE GRUBE UND DAS PENDEL
    The Pit and the Pendulum ()

    Impia tortorum longas hic turba furores Sanguuns innocui, non satuata, aluit, Sospite nunc patria, fracto nunc funeris an-tro Mors ubi dirafuit vita salusque patent.
    (Inschrift für das Tor, welches zu dem Platz führt, auf dem sich das Gebäude des Jakobinerklosters zu Paris befunden hat.)

    Die lange Todesangst hatte mich gebrochen, mein Leben bis ins Mark zerstört, und als man meine Fesseln löste und mich sitzen ließ, fühlte ich, daß meine Sinne schwanden. Das Urteil, das fürchterliche Todesurteil, war der letzte deutliche Laut, der mein Ohr erreichte, dann schienen die Stimmen meiner Untersuchungsrichter traumhaft in ein unbestimmtes Summen zusammenzuschmelzen, das sich in meiner Seele zu dem Gedanken an eine Umdrehung verdichtete – vielleicht, weil es in meiner Phantasie die Vorstellung eines Mühlrades hervorrief. Doch währte dies nur eine sehr kurze Zeit, denn plötzlich vernahm ich nichts mehr. Doch sah ich noch eine Zeit lang – aber in welch gräßlicher Verzerrung! – die Lippen der Richter in den schwarzen Talaren, und sie erschienen mir weiß; weißer als das Blatt, auf welches ich diese Worte schreibe, und dünn bis zur Fratzenhaftigkeit, dünn durch ihren grausamen Ausdruck von Härte, unwandelbarem Entschluß und starrer Verachtung menschlicher Qual! Ich sah, daß der Spruch, der mein Schicksal besiegelte, über ihre Lippen kam.
    Ich sah, wie sie sich bewegten, um mir den Tod zu verkünden. Ich sah, wie sie die Silben meines Namens bildeten, und schauderte, weil kein Ton auf die Bewegung folgte. Ich sah auch während einiger Augenblicke irren Entsetzens, daß sich die schwarzen Draperien, welche die Wände des Saales bekleideten, leise, fast unmerklich bewegten – und dann fiel mein Blick auf die sieben großen Kerzen auf dem Tisch. Erst schauten sie mich an wie Bilder der Menschenliebe, ich hielt sie für weiße, schlanke Engel, die mich retten wollten. Doch plötzlich goß sich ein grauenhafter Schwindel über meine Seele, und ich bemerkte, wie jede Fiber meines Leibes schauderte, als hätte ich den Draht einer galvanischen Batterie berührt; die Engelsgestalten wurden seelenlose

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