Erzählungen
unter dem Ausdruck › absichtlich so einbalsamiert‹ verstehen?«
»Mit großem Vergnügen,« antwortete mir die Mumie, nachdem sie mich gelassen längere Zeit durch ihr Lorgnon betrachtet hatte – denn es war das erste Mal, daß ich wagte, eine direkte Frage an sie zu stellen.
»Mit großem Vergnügen,« antwortete mir also der Ägypter. »Zu meiner Zeit belief sich die gewöhnliche Lebensdauer eines Mannes auf ungefähr achthundert Jahre. Wenig Menschen starben, wenn sie nicht etwa durch einen Zufall dahingerafft wurden, bevor sie das Alter von sechshundert Jahren erreicht hatten; nur wenige jedoch lebten länger als eine Dekade von Jahrhunderten. Als die natürliche Lebensdauer nahm man achthundert Jahre an. Nach der Erfindung des Einbalsamierungprinzips, das ich Ihnen eben erklärt habe, kamen unsere Philosophen auf die Idee, daß man einer sehr lobenswerten Neugier der Menschen und den Interessen der Wissenschaft dienen könne, wenn man jemanden diese natürliche normale Lebensdauer in verschiedenen Zeitabschnitten durchleben ließe. Vom Standpunkt der Geschichtskunde war das eigentlich sogar geboten. Nehmen wir einmal an, ein Historiker hätte im Alter von fünfhundert Jahren mit großer Mühe ein Buch geschrieben. Darauf ließe er sich sorgfältig einbalsamieren und gäbe seinen Testamentsvollstreckern die Anweisung, dafür zu sorgen, daß er nach Verlauf einer gewissen Zeit – sagen wir einmal nach fünf- oder sechshundert Jahren – wieder ins Leben zurückgerufen werde. Wenn er also nach dieser Zeit wieder ins Dasein träte, würde er sein großes Werk sicherlich in ein großes, aus gelegentlichen Aufzeichnungen entstandenes Notizbuch verwandelt finden – das heißt in eine Art literarischen Tummelplatzes für die widerstreitenden Vermutungen, Auslegungen und persönlichen Zänkereien ganzer Horden von Kommentatoren. Diese Vermutungen, welche sich unter dem Namen von Erklärungen, Anmerkungen und Erläuterungen breit machten, hätten den wirklichen Text seines Buches so verdreht oder verwirrt, daß der Autor selbst mit der Laterne herumgehen müßte, um ihn wiederzufinden. Und wenn er ihn wiedergefunden, mußte er sich sagen, daß er kaum des Suchens wert gewesen. Er schrieb das Buch von neuem und verbesserte nach seiner eigenen Kenntnis und Erfahrung die Forschungen des Tages über die Zeit, in welcher er ursprünglich gelebt hatte. Dieses Verfahren einzelner Gelehrter, ihre eigenen vor Jahrhunderten geschriebenen Werke wieder umzuarbeiten und zu berichtigen, hat unsere ägyptische Geschichte glücklicherweise davor bewahrt, zur reinen Fabel zu werden.«
»Verzeihung,« sagte Doktor Ponnonner und legte seine Hand leicht auf den Arm des Ägypters, »Verzeihung, mein Herr, darf ich mir erlauben, Sie auf einen Augenblick zu unterbrechen?«
»Bitte, bitte, mein Herr,« sagte der Graf und richtete sich auf.
»Ich möchte nur eine Frage stellen,« begann der Doktor. »Sie sprachen eben von der persönlichen Berichtigung, welche der wieder zum Leben erwachte Historiker den über Seine Zeit in Umlauf gesetzten Traditionen angedeihen läßt. Würden Sie die Güte haben, mir zu sagen, wieviel im allgemeinen an diesen gelehrten Noten für richtig befunden wurde?«
»Diese, wie Sie sagen, gelehrten Noten standen gewöhnlich in einem genau umgekehrten Verhältnis zu den Tatsachen, die in den nicht wieder durchgearbeiteten Geschichtswerken erzählt waren – das heißt: an beiden war auch kein Jota richtig.«
»Da es aber ganz klar ist,« begann der Doktor wieder, »daß seit Ihrer Bestattung wenigstens fünftausend Jahre vergangen sind, nehme ich an, daß, wenn schon nicht die Traditionen, so doch die Geschichtschreiber Ihrer Zeit die Menschheit eingehend und zuverlässig von dem Ereignis unterrichteten, welches allezeit das größte Interesse in Anspruch nahm und, wie Sie wohl wissen, nur zehn Jahrhunderte früher stattfand – ich meine die Erschaffung der Welt.«
»Ich begreife nicht recht …« meinte der Graf Allamistakeo.
Der Doktor wiederholte seine letzten Worte, doch verstand der Fremde den Sinn derselben erst, nachdem man ihm einige Erklärungen gegeben, und antwortete schließlich zögernd:
»Ich muß gestehen, daß mir die Ideen, die Sie soeben äußerten, vollständig neu sind. Zu meiner Zeit habe ich nie jemanden gekannt, der die seltsame Vorstellung hatte, daß das Universum, oder die Welt, wie Sie sagen, jemals einen Anfang genommen hätte. Ich erinnere mich allerdings, einmal, aber auch
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