Es begann im Birkenhain (Heimatroman) (German Edition)
Augenblick stehen. In ihr wühlte ein unsagbarer Schmerz. Doch schaffte sie es, den Zorn, der ebenfalls in ihr war, niederzukämpfen.
»Sei ihm nit gram, Ilse«, bat sie. »Die Wunde ist noch alleweil viel zu frisch, als das man dran rührt. Hoffen wir, dass die Zeit alles heilt.«
Als das Jahr bereits in den Sommer hineinlief, durfte Anderl Löwinger die Klinik verlassen. Der Bub war bleich und durchscheinend im Gesicht. Wie erloschen standen die hellen Augen darin, denn auch er wusste ja mittlerweile, dass er seine Füße nicht mehr bewegen konnte. Von all den Dingen, die unterdessen im Dorf vor sich gegangen waren, erfuhr er nichts. Man fragte ihn auch gar nicht, wie es seinerzeit zu dem Unglück gekommen war. Jeglicher Lebensmut schien aus dem Bubenkörper gewichen zu sein.
Die Löwingerin verhätschelte den Knaben nach allen Regeln der Kunst. Unterdessen aber begann sich Max, sehr zum Leidwesen seiner Frau, zu verändern. Immer seltener gab er sich mit seinem Sohn ab. Anderl saß in einem Rollstuhl, den man für ihn gekauft hatte. Er lernte es, sich darin fortzubewegen. Doch hinauf in die Kammer und hinunter musste man ihn alleweil tragen.
Dies schien dem Adlerwirt mit der Zeit zu einer argen Last zu werden. Es fiel Hanna auf, dass ihr Mann sein Gesicht zur Seite drehte, wenn er den Buben hinunter in die Gaststube trug.
Eines Tages kam es dann zu etwas, was Hanna scharf wie ein Messer durch die Brust fuhr.
»Lass den Buben nit alleweil in der Wirtsstube umeinander hocken«, sagte Max Löwinger zu seiner Frau.
»Aber warum denn nit?«, wollte sie fassungslos wissen. »Von da aus hat er doch einen so schönen Blick über die Straße. Dann sieht er wenigstens etwas.«
»Aber die Gäste mögen es nit leiden«, erklärte Max eckig. Da schoss sie hinter ihm her und zerrte an seinen Kleidern.
»Seit wann sind dir die Gäste lieber, als dein eigen Fleisch und Blut!« schrie sie ihn unbeherrscht an.
»Ach, lass mir doch meine Ruh«, knurrte er. Und damit war sie wieder allein mit ihrem Kummer und ihrem Elend.
Martin Jaus durfte das Gasthaus nicht betreten. Auch Ilse wurde nie wieder aufgefordert zu helfen. Christian Liebeiner kam sehr selten. Die Lüge, die er seinerzeit aus Angst und Unwissenheit herausgeplaudert hatte, drückte schon arg auf sein kindliches Gewissen. Aber diese Lüge war gesagt worden. Und es schien nichts auf der Welt zu geben, was sie wieder auslöschen konnte.
Etliche Sommer und Winter waren über das schöne Bergland hinweggegangen. Es hatte gute und schlechte Ernten gegeben. Menschen waren verschwunden, grad so wie der Schnee, der kommt und wieder vergeht. Die Berge standen noch alleweil wie eh und je unter dem glasklaren Himmel, und auch die Menschen waren anders geworden in jenen Tagen.
Aus der blonden Barbara war ein hübsches Ding geworden. Blond war ihr lockiges Haar, das bis zu den Schultern fiel. Blitzblau blickten die Augen in die Welt.
»Als dann, Madl, auf dein Wohl«, sagte der Gastwirt Max Löwinger und hob sein Glas. »Heut bist großjährig, Barbara.«
»Ich weiß, Vater«, sagte die Angesprochene. Man feierte den achtzehnten Geburtstag der Gastwirtstochter. Zu diesem Zweck war das Gasthaus geschlossen worden.
Mit am Tisch saß Anderl. Er war ein großer, schlaksiger junger Mann geworden. Ein hübscher Bursch an sich, den viele Dirndln in Briggs wohl gern gesehen hätten, würde er sich nur fortbewegen können. In Briggs hatte man sich an den Löwinger-Anderl und seinen Rollstuhl gewöhnt. Schon lange redete man nicht mehr von den Ereignissen, die das Leben des Gastwirtssohn seinerzeit vollkommen verändert hatten.
Man hatte sich eben mit diesen Dingen abgefunden und versucht, sie zu ertragen, so gut, wie das möglich war.
»Sitzt du auch gut, Anderl?« fragte Barbara ihren Bruder. Mit Zärtlichkeiten und Sorgfalt bemutterte und betreute sie ihn. Max hatte sich im Laufe der Jahre von seinem Sohn ziemlich abgewandt. In Max, dessen Schläfen im Laufe der Zeit grau geworden waren, hatte sich ein Gefühl der Verbitterung und Abwehr entwickelt. Anderl war in seinen Augen zu nichts mehr zu nutze. Er, der alleweil gehofft hatte, Anderl würde als Namensträger das Gasthaus »Zum schwarzen Adler« einmal fortführen und vielleicht zu noch größerer Blüte entwickeln, hatte sich in seinen Plänen vollkommen enttäuscht gesehen. Alle Hoffnungen waren ja zerstört. Eine Aussicht, dass Anderl jemals wieder würde gehen können, gab es nicht. Man hatte nämlich in den
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