Es begann in einer Winternacht
1. KAPITEL
London, 1843
Während Sebastian, Lord St. Vincent, die junge Frau anstarrte, die gerade in sein Londoner Stadthaus gestürmt war, kam ihm der plötzliche Gedanke, dass er letzte Woche im Stony Cross Park möglicherweise versucht hatte, die falsche Erbin zu entführen.
Auch wenn Entführung bis vor Kurzem nicht auf Sebastians langer Liste schändlicher Taten gestanden hatte, so hätte er doch wirklich intelligenter vorgehen können.
Im Rückblick war Lillian Bowman eine törichte Wahl, auch wenn sie in dem Moment die perfekte Lösung für all seine Probleme schien. Ihre Familie war reich, während Sebastian einen Titel hatte und Geld brauchte. Und Lillian selbst hatte mit ihrer dunkelhaarigen Schönheit und ihrem feurigen Temperament durchaus den Anschein einer unterhaltsamen Bettpartnerin gemacht. Aber er hätte sich für eine viel weniger ungestüme Beute entscheiden sollen.
Lillian Bowman, eine lebhafte amerikanische Erbin, hatte seinem Plan erbitterten Widerstand entgegengesetzt, bis sie von ihrem Verlobten, Lord Westcliff, gerettet worden war.
Miss Evangeline Jenner, die jetzt sanft wie ein Lämmchen vor ihm stand, unterschied sich so sehr von Lillian Bowman, wie es nur eben möglich war. Sebastian betrachtete sie mit gerade noch verhohlener Geringschätzung, während er überlegte, was er über sie wusste. Evangeline war das einzige Kind von Ivo Jenner, dem berüchtigten Londoner Spielkasinobesitzer, und der Frau, die mit ihm durchgebrannt war – bevor sie nur allzu schnell feststellen musste, was für ein großer Fehler das gewesen war.
Auch wenn Evangelines Mutter aus einer guten Familie kam, war ihr Vater wenig besser als Gossenabschaum.
Trotz ihrer wenig ruhmreichen Herkunft hätte Evangeline eine durchaus gute Partie machen können, wäre da nicht ihre lähmende Schüchternheit gewesen, die ein quälendes Stottern zur Folge hatte.
Sebastian hatte Männer in grimmigem Ton sagen hören, dass sie sich lieber die Haut von einem härenen Hemd blutig kratzen lassen würden, als sich mit ihr unterhalten zu müssen. Natürlich hatte Sebastian alles, was in seiner Macht stand, getan, um ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Das war bisher auch nicht schwierig gewesen. Die scheue Miss Jenner versteckte sich gern in den hintersten Ecken. Sie hatten noch kein Wort miteinander gewechselt, ein Umstand, der ihnen beiden sehr gut zu passen schien.
Aber nun konnte er ihr nicht mehr aus dem Weg gehen. Aus irgendeinem Grund hatte Miss Jenner es für angemessen gehalten, zu skandalös später Stunde uneingeladen in Sebastians Haus zu erscheinen. Um die Situation noch verfänglicher zu machen, war sie ohne Begleitung gekommen – und mehr als eine halbe Minute allein in Sebastians Gesellschaft reichten vollkommen aus, um ein Mädchen für immer zu ruinieren. Denn er war verkommen, ohne jede Moral und auch noch stolz darauf. Er war ein Meister seiner gewählten Beschäftigung – der des eiskalten Verführers –, und er hatte Maßstäbe gesetzt, die nur wenige andere Lebemänner je hoffen konnten zu erreichen.
Entspannt lehnte Sebastian sich in seinem Sessel zurück und beobachtete mit einem trügerischen Anschein von Gleichgültigkeit, wie Evangeline Jenner näher kam. Die Bibliothek wurde nur von einem kleinen Feuer im Kamin erhellt, und sein flackerndes Licht spielte sanft über das Gesicht der jungen Frau. Sie sah nicht älter als zwanzig aus, mit einem frischen Teint und einer Unschuld in den Augen, die bei Sebastian nichts als Verachtung hervorrief.
Er hatte Unschuld noch nie geschätzt oder gar bewundert.
Ein Gentleman hätte sich aus seinem Sessel erhoben, aber unter den gegebenen Umständen schienen solche Gesten der Höflichkeit überflüssig. Stattdessen gestikulierte er mit einer nachlässigen Handbewegung zu dem anderen Sessel neben dem Kamin.
„Wenn Sie wollen, können Sie sich gerne setzen“, sagte er. „Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht hoffen, lange zu bleiben. Ich langweile mich schnell, und Sie sind kaum bekannt für Ihre brillante Konversation.“
Evangeline nahm seine Grobheit ohne jede Regung hin. Unwillkürlich fragte sich Sebastian, unter welchen Bedingungen sie aufgewachsen sein musste, um so unempfindlich gegen Beleidigungen zu sein. Jedes andere Mädchen wäre errötet oder in Tränen ausgebrochen. Entweder war sie einfach dumm oder wirklich erstaunlich kaltblütig.
Evangeline zog ihren Mantel aus und legte ihn über die Armlehne des samtbezogenen
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