Es blieb nur ein rotes Segel
…«
»Dann muß er endlich lernen, was er Rußland schuldig ist!« Alexander III. erhob sich abrupt. »Soll Nikolai der letzte Romanow sein?«
Er ahnte nicht, welch eine grausame Prophezeiung er damit aussprach …
Das zweite Bild aus ›Coppelia‹ war beendet.
Das Corps de ballet zog sich wieder an die Wand zurück. Pierre Lacombe schwitzte wie ein Ackergaul, aber er wagte es nicht, sich mit einem Tuch das Gesicht abzuwischen.
Der Zarewitsch richtete sich auf. Er klatschte ein paarmal in die Hände, hörte aber schnell damit auf, als schäme er sich, Gefühlsregungen gezeigt zu haben.
»Sehr schön –«, murmelte er. »Wirklich sehr schön, Madame. Es war ein Erlebnis.«
»Darf ich Kaiserliche Hoheit die Solisten vorstellen?« fragte die Jegorowna. Auch sie war glücklich. Sie hatte bisher geglaubt, Matilda genau zu kennen, jede ihrer Bewegungen, jeden Schritt, jeden Sprung –, es war ein Irrtum gewesen. Heute hatte eine andere Matilda getanzt, ein völlig fremdes Wesen, außerirdisch in ihrer Grazie, in ihrer Schwerelosigkeit, in jeder Geste von Gliedern und Körper. Sie hatte, wie der Zarewitsch, atemlos auf sie gestarrt und wäre bald umgekommen vor Herzklopfen.
Nun löste sich alles, Glück überströmte sie. Wie eine Mutter war sie, die jeden dieser Tänzer liebte.
Nikolai winkte. Er schlug die Beine übereinander und nickte gnädig, als Tamara Jegorowna die Solisten vorstellte:
Die blonde, kleine Tonja, die vor Erregung zitterte.
Die große, schlanke, braunhäutige Vera aus Kasan, die vor dem Zarewitsch hinfloß wie der sterbende Schwan.
Borja, der muskulöse Bursche aus den Wäldern von Smolensk.
Jegor, der Halbasiate, der wie kein anderer den Sprung mit Drehung, den grand jete en tournant, beherrschte.
Tichon, der finster blickende Sohn eines Jägers aus der Taiga, der von den Luchsen die Geschmeidigkeit gelernt zu haben schien.
Elisawetha, die rothaarige Schönheit, die nie eine Ballerina werden würde, weil sie, aus der Zucht der Jegorowna entlassen, mit allen Männern ins Bett gehen und später einen reichen Kaufmann heiraten würde.
Der Zarewitsch nickte und lobte, aber sein Blick suchte heimlich nach dem Mädchen, das die großen Solopartien getanzt hatte. Matilda stand am großen Spiegel und ordnete ihr Tutu.
»Und nun, Kaiserliche Hoheit –«, sagte die Jegorowna, »möchte ich Ihnen den Stern unserer Ballettschule vorstellen. Bei der Weihnachtspremiere in der Kaiserlichen Hofoper wird sie ihr Debüt haben. Matilda Felixowna …«
Und da geschah etwas Außergewöhnliches.
Der Zarewitsch Nikolai Alexandrowitsch erhob sich aus seinem Sessel und kam Matilda drei Schritte entgegen. Als sie vor ihm niederknickste, beugte er sich zu ihr hinab und zog ihre Hand hoch.
»Mademoiselle …« Seine Stimme war leise und klang gehemmt, aber sie war trotzdem warm wie ein Sommerhauch. »Darf ich Gast bei Ihrer Premiere sein?«
Eine Antwort gab es nicht. Das gesenkte Gesicht Matildas bewahrte den Sturm, der in ihr ausgebrochen war, und zeigte ihn nicht. Die Beine, in der klassischen Position, zitterten in den Muskeln. Ihr Stand wurde unsicher. Sie nickte stumm.
Sie spürte seine Hand, die ihre Hand hielt, wie ein heißes Eisen, dessen Glut ihren Körper durchströmte. Eine Glut, die alles wegbrannte und nichts mehr übrigließ als ein Gefühl größter Einsamkeit, in der sie eine wilde Musik umrauschte. Wenn er mich losläßt, falle ich zusammen, dachte sie, bin ich Asche. Warum hat er mich angefaßt? Der kommende Zar hält meine Hand … Die Hand der armen Matilda Felixowna Bondarew, die keinen Vater hat, weil die Mutter Rosalia Antonowna nie herausbringen konnte, wer von den Bauernburschen, die mit ihr geschlafen hatten, nun der Vater war …
»Ich werde kommen«, sagte der Zarewitsch leise. »Mademoiselle Matilda, ich werde Mühe haben, auf diesen Abend zu warten …«
Er hob ihre Hand, beugte sich darüber und küßte sie.
Von Matilda fiel alles irdische ab. Sie spürte die Lippen Nikolai Alexandrowitschs auf ihrem Handrücken, und als sie voll begriff, daß der Zarewitsch ihre Hand küßte, fiel sie um und entschwebte in die Unendlichkeit.
Der künftige Zar, der Leutnant der Garde und Tamara Jegorowna fingen die Ohnmächtige auf und trugen sie zu einem Sessel. Pierre Lacombe eilte vom Flügel herbei, ein Riechfläschchen in der Hand. So etwas trug er immer bei sich, schon um sich vom Geruch des Pöbels auf der Straße zu befreien.
Matilda hing in dem breiten Sessel, sehr bleich,
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