Liberty 9 - Sicherheitszone (German Edition)
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Kendira schreckte aus dem Schlaf und richtete sich mit einem Ruck im Bett auf. Ihr Herz raste. Sie fuhr sich über die Augen und lauschte in die Nacht. Im Alpha-Dorm der Lichtburg, das sie mit vierundzwanzig anderen auserwählten Mädchen zwischen sechzehn und achtzehn teilte, herrschte bis auf die üblichen Schlafgeräusche und das beständige Summen der Klimaanlage nächtliche Ruhe– trotz der Schüsse aus dem Totenwald.
Das trockene Stakkato der Schnellfeuergewehre, mit denen die Guardians von Liberty 9 ausgerüstet waren, unterschied sich deutlich von den scharfen, krachenden Detonationen der veralteten Waffen, mit denen die Nightraider auf die Feuerstöße der Libertianer antworteten.
Das Feuergefecht, das sich eine Nachtpatrouille mit einer Gruppe Nightraider irgendwo in der Ferne lieferte, wo die dichten dunklen Wälder allmählich in die Felsenberge der Sierra übergingen, hatte keine der Electoren aus dem Schlaf gerissen. Auch Kendira nicht. Die gelegentlichen Versuche beutehungriger Nightraider, aus der Dunkelwelt in ihr Tal einzudringen, die Schutzanlagen zu überwinden und in der Sicherheitszone zu brandschatzen und zu morden, gehörten so selbstverständlich zu ihrem Leben in Liberty 9 wie die ungemütlichen winterlichen Morgenappelle und der Tanz der Tausend Stäbe im Schwarzen Würfel. Kendira war vielmehr aus einem Albtraum geflüchtet, dessen beklemmende Bilder mit dem Erwachen augenblicklich verblassten und sich dem Zugriff ihrer Erinnerung entzogen.
Sie schaute auf ihre Uhr. Die grünen Leuchtziffern sagten ihr, dass es bis zum Fahnenappell vor der Lichtburg noch eine knappe Stunde hin war. An Einschlafen war jedoch nicht mehr zu denken, dafür war sie schon zu wach.
Kurz entschlossen schlug sie die Decke zurück, stand auf und trat zu ihrem offenen Kleiderspind, der rechts neben ihrem Bett stand. Eine Bettreihe weiter, wo ihre beste Freundin Nekia schlief, fiel durch hohe Rundbogenfenster milchiges Mondlicht in den Schlafsaal. Ein zusätzlicher schwacher Lichtschein kam von den kleinen quadratischen Nachtlichtern. Sie leuchteten in Kniehöhe an den Seiten der achteckigen Steinsäulen, die den Schlafsaal in drei Bereiche mit jeweils acht Betten unterteilten, und neben der Tür zum Gang. Genug Licht auch in finsterster Nacht, um den Weg zu den Toiletten und Waschräumen draußen auf dem Gang zu finden.
Kendira schlüpfte in ihren hellgrauen Body und streifte ihre wadenlange Kutte über den Kopf. Das edle fließende Gewebe, das im Winter wärmte und im Sommer kühlte, schimmerte selbst bei schwachem Licht in einem metallisch silbrigen Blauton. Vorschriftsmäßig band sie sich den Gürtel aus weißen geflochtenen Kordeln mit einem dreifachen Knoten um die Hüften und fuhr in ihre Ledersandalen.
Das Hologramm, das etwa halb so groß war wie ihre Handfläche, flimmerte schwach über ihrer linken Brust. Es stellte einen sich drehenden Kubus dar, der in allen Spektralfarben leuchtete. Sie berührte das Hologramm kurz, als müsste sie sich selbst nach zwei Monaten vergewissern, dass sie das Hyperion-Symbol auch tatsächlich an ihrer Kutte trug.
Sie war stolz darauf– wie auf den weißen Gürtel, der ebenfalls ihren hohen Rang kennzeichnete. Denn nur wenige im Konvent der Electoren erreichten schon in ihrem Alter den Alpha-Level und damit die höchste Stufe der Ausbildung, die sie für den Dienst im Lichttempel der Erhabenen Macht befähigen würde.
Aufmerksam und aufZehenspitzen, um ja keine ihrer Electoren-Schwestern zu wecken, huschte Kendira über die Holzdielen zu der doppelflügeligen Tür, in deren dunkles Holz das gut meterhohe Alpha-Zeichen gefräst war.
Auf dem Weg dorthin kam sie am Bett von Fay vorbei. Es stand im Schlagschatten einer der mächtigen Säulen, die zur hohen Gewölbedecke aufstiegen. Die hochgewachsene Fay mit dem ebenso anmutigen wie athletisch durchtrainierten Körper gehörte zu den ältesten Mädchen im Alpha-Dorm. Sie war mit ihren achtzehn Jahren fast anderthalb Jahre älter und wurde von vielen bewundert und von nicht wenigen beneidet. Denn Fay erzielte bei den Prüfungen im Schwarzen Würfel als driver regelmäßig traumhafte Ergebnisse, sogar bei ihren Solos. Nie fiel sie bei einem run unter 94 Prozent, und einmal hatte sie sogar traumhafte 97,4 Prozent erreicht. Von den tausend Stäben waren ihr damit nur sechsundzwanzig entwischt, was einfach unglaublich war! Das hatte bisher noch keiner vor oder nach ihr erreicht, auch keiner aus den Reihen der männlichen
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