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Es geht auch anders

Es geht auch anders

Titel: Es geht auch anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Lotz (Hg.)
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Boden«-Politik Hitlers. Es fällt schwer, den jüngeren, nachgeborenen Lesern zu vermitteln, wie es war. Ich sage immer: Wer damals nicht dabei gewesen ist, der hat’s auch nicht erlebt. Hitler hatte auf makabre Weise recht behalten: Sein »Volk ohne Raum« hatte jetzt tatsächlich keinen Raum, keinen Wohnraum mehr. Ein Dach überm Kopp glich einem Lottogewinn. Alle waren ausgebombt. So bezog ich, rein provisorisch, eine etwas fußkalte Seitenflügelparterrewohnung in der Kreuzberger Fidicinstraße. Dort wohne ich noch heute. Die Wohnung hatte mir eine mütterliche Freundin, die ich ein paar Jahre zuvor inmitten der Kriegswirren kennengelernt hatte, vermittelt.
    Helene, Helene Dietrich! Die wohnte schon seit jeher in Kreuzberg am Mehringdamm, Ecke Bergmannstraße. Zufällig hatte sie von dieser kleinen, noch einigermaßen bewohnbaren Wohnung erfahren und sie mir vermittelt. Wir alle waren nach dem Kriegsende froh, noch mal davongekommen zu sein und leben, wieder leben und weiterleben zu dürfen. Nachdem die Heerscharen brauner Köchinnen und Köche bedingungslos kapituliert hatten, löffelten wir nun die von ihnen eingebrockte Aschesuppe nach und nach gemeinsam aus. Die erste Nachkriegszeit war grauenhaft: Wir hatten ja nix! Möbel, Geschirr, Wasch- oder Putzmittel? Wenn ich Fenster putzen wollte, musste ich zu meiner Nachbarin. Bei der waren die Scheiben drin geblieben.
    Das Alltagsleben musste organisiert werden: Lebensmittelmarken, Zigarettenwährung, Schwarzmarktschnäppchen. Mit knurrendem Magen Schlange stehen, Ketten bilden, Eimer voller Ziegel weiterreichen und Steine kloppen. Trotz dieser Anstrengungen der unmittelbaren Nachkriegszeit kamen auch für mich bald die ersten internationalen Angebote – aus dem amerikanischen, britischen und französischen Sektor. Man bot mir Seidenstrümpfe, und ich sollte dafür Privatvorstellungen geben, wenn Sie wissen, was ich meine.
    Aber für solcherlei Unterhaltung stand ich nicht zur Verfügung. Ich habe – nach jeweilig kurzem Zögern – die mir angebotenen Seidenstrümpfe zum Befremden der Anbieter stets zerrissen. Ich wollte alles oder nichts. Aber eine Soldatenbetreuung im großen Stile, wie sie mir damals vorschwebte, hätte »die Moral der Truppen« zersetzt. Dies meinte zumindest ein Alliierter vor dem Kontrollrat: »You really could destroy the moral of our troops«, rief er mir vor dem Gebäude zu, mir hinterherpfeifend, als ich an ihm vorüberging.
    Bald nachdem Hildegard in die Staaten, genauer gesagt nach L. A., gegangen war, bekam ich eine Ansichtskarte, die sie mir wahrscheinlich unter kalifornischer Sonne und Palmen sitzend geschrieben hatte. Meine Kreuzberger Adresse hatte sie wohl über den Suchdienst vom Roten Kreuz ausfindig gemacht. So erreichte mich die erste Post von meiner Schwester aus Übersee. Ja, sie hatte es geschafft und war über den Großen Teich gekommen. Selznick, der großartige Produzent ganz und gar nicht alberner Melodramen, hatte sie geholt. Wo war der Produzent, der mich nach Hollywood hätte holen können? Offensichtlich »vom Winde verweht«!
    Die mittlerweile sehr abgegriffene und ausgebleichte kolorierte Ansichtskarte – ich habe das Original in meinen späteren Bühnenshows immer wieder dem Publikum präsentiert – zeigt einen kargen Berg, an dem ein Gestell mit weißen Großbuchstaben montiert ist. Auf der Rück- beziehungsweise Schreibseite prangte in unserer schönen, großzügigen, lateinischen Schrift: »Hello Irmgard! Greetings from Hollywood. Das Wetter ist schön und das Essen gut. Call me if you want. Hilde«. Eine ellenlange Telefonnummer zierte den unteren Rand der Postkarte, und eine Vierzig-Cent-Briefmarke prangte in der für sie bestimmten Ecke. Obwohl sie kurz vor unserer Trennung »keinen Pfennig« auf unsere gemeinsam-schwesterliche Karriere gegeben hätte, hatte sie jetzt dennoch freiwillig Geld für mich ausgegeben. Wenn es auch nur vierzig Cent für die Briefmarke waren. Während ich meine ersten vierzig Mark – die wir alle nach der Währungsreform als Überbrückungsgeld, als Starthilfe bekommen hatten – gänzlich für das Porto meiner Bewerbungsunterlagen ausgab. Ich hätte das Geld genauso gut zum Fenster rausschmeißen können.
    Obwohl dann doch noch was geklappt hat. Ich bekam ein Engagement als eine Tänzerin, als Eintänzerin im allerersten Provisorium des später so berühmt gewordenen Café Keese. Beim mittwöchlichen Ball der einsamen Herzen in einer notdürftig

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