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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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an dem, was zwischen Richard und Frau Ziehrer war, hingegen ändert es sehr wohl etwas an dem, wie Alma sich fühlt, wenn sie an Richard und Frau Ziehrer denkt.
    Alma holt einen mittelgroßen Karton aus dem Keller und trägt ihn in Richards Arbeitszimmer. Der Raum ist weitgehend in dem Zustand verblieben, in dem Richard ihn verlassen hat, mit den von ihm irgendwann begonnenen und nie zu Ende geschriebenen Notizen am Schreibtisch, der Schreibmaschine, ein leerer Bogen darin eingespannt, gewölbt von der Walze, und davor, an einer helleren Stelle, wo die oberste Schicht des Tischholzes durchgescheuert ist, eine der vielen Füllfedern, die Richard im Laufe seines Arbeitslebens geschenkt bekommen hat. An der Wand das gerahmte Foto von Richard und der Familie Chruschtschow auf der Staumauer von Kaprun. Fotos von den Staustufen an der Donau. Und zwischen Bücherregal und Rollbalkenschrank die Landkarte von der kleinen Republik, die geografisch die Form einer Hühnerkeule hat. Ein Geruch nach verschütteter Tinte und vor sich hinbröselnden Farbstiften und langsam der Zukunft entgegenrostenden Büroklammern entsteigt den Schubladen. In der vierten Lade, die Alma öffnet, finden sich – zum wievielten Mal? – die Briefe von Nessi und Hermann, der lieben Verwandtschaft. Ohne nochmals hineinzublättern, wirft Alma den Packen in den Karton und, damit es sich lohnt, auch diverse andere Briefe an Richard, dazu etliche Aktenordner. Sie hievt den Karton vor die Brust, steigt die Treppen hoch mit langsamen Schritten bis unter das Dach, wohin es sie seit Anfang des Sommers nicht mehr verschlagen hat. Eine drückende Luft, eine drückende Stille stemmen sich ihr entgegen, Wärme und Feuchtigkeit, nur das leise Knacken der Dachbalken ist zu vernehmen, belauert von den Mäusen in den Strohmatratzen. Alma hat noch den Geruch des kriegsbedingt leergeräumten Dachbodens im Gedächtnis und die von den Brettern abstrahlende, gleichsam rauhe Wärme, die dort das halbe Jahr über herrschte und anders war als die Wärme auf der Veranda und im Bienenhaus (wo das dunkle Holz in der Sonne immer ein wenig verbrannt riecht). Sie weiß noch, wie Otto, der vorbildliche Hitlerjunge, das beste Gut der Nation, sie sachlich streng an der Kübelspritze und am Sandeimer instruierte. Sie weiß noch, wie Peter eine Seitenwand des auseinandergebauten Biedermeierschranks am letzten Treppenstich fallen ließ und ohne ein weiteres Wort aus dem Haus stürmte, nachdem er und Richard sich weder über die Art des Tragens hatten einigen können noch über die Sicherheitspolitik für die Welt, die sie schon den ganzen Nachmittag über betrieben hatten. Sie weiß. Sie weiß. Lauter so Geschichten. Sie stellt den Karton auf ein schmales Bett hinter dem Treppengeländer, auf mehrere andere Kartons, die von einer großen Mappe getragen werden mit (was was was?) häßlichen Stichen aus dem Besitz von Richards Eltern (Jagdszenen und französischen Modeblättern). Es herrscht ein stellenweise planmäßiges, dann wieder ganz unbeschreibliches Drunter und Drüber, als wären manche Ecken passiv, manche noch aktiv: offene Koffer, zu labilen Türmen gestapelte Schachteln, eingerollte Teppiche, Eislaufschuhe (spröd wie aus Pappmaché), Schultaschen griffbereit an Wandhaken, Schachteln mit Schulheften (zehn Sätze mit daß ), eine Rodel (oder was einmal eine Rodel war), alte Federbetten, die Federn sedimentiert, eine Wehrmachtsdecke, Kaffeedosen (Arabia, Meinl), Keksdosen (Haeberlein, Heller) ungewissen Inhalts (abgerissene Briefmarken? Knöpfe?) und Staub, auf allem Staub wie zäher Verbandsstoff, als wäre das Gerümpel, ähnlich Richards gebrochenem Bein, bandagiert gegen die Schmerzhaftigkeit der darauf lastenden Zeit. Es ist, als würde nach und nach mit der Feuchtigkeit auch die Bedeutung aus den Gegenständen gepreßt. Wohin man schaut, verklumpen sich die abgelegten Dinge zu einem Grundstoff, einer Materie, die Generationen vermengt, zu eingedickter, eingeschrumpfter, ihrer Farben beraubter Familiengeschichte.
    Zwischen den Möbeln und dem Gerümpel hindurch, vorbei an Ottos Tretauto, schiebt sich Alma zum nach Westen gelegenen Fenster und öffnet es, um frische Luft einzulassen. Als sie den linken Flügel befestigen will, fällt die Ringschraube aus der Wand. Alma denkt, ja, richtig, das gab’s schon mal, das hatten wir schon öfters. Im Sommer. Sie hebt die Ringschraube auf, dreht sie notdürftig in das ausgeleierte Loch, hängt den Haken in den Ring, knipst einige

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