Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
er Arbeit hatte, und wollte nichts anderes als arbeiten. Ob er nun 43 oder 50 Pfennig in der Lohntüte hatte - das machte den Kohl auch nicht mehr fett.
Er war der Erste - und womöglich auch der Einzige –, der heute auf dem Kohlenplatz von Gottfried Kockanz in der Wiclefstraße zur Arbeit erschien. Kein Problem, er hatte einen Schlüssel. Bevor er die erste Tür aufschloss, riss er erst einmal die Zettel ab, die man an den kompakten hölzernen Zaun geklebt hatte, der den Platz wie eine Festungsmauer von der Straße trennte: Plumeyer’s Bartwuchsbeförderer. Garantiert unschädlich! Vom kaiserl. Patentamt gesetzl. geschützt. - Bügele Deinen Cylinderhut selbst auf mit Cylindrol!
Der Kohlenplatz war eingeklemmt zwischen den Mauern der beiden angrenzenden vierstöckigen Mietshäuser und erinnerte von weitem an einen ausgeschlagenen Zahn in einem sonst gleichmäßigen Gebiss. Paul Tilkowski hatte einige Mühe, das Tor aufzusperren, denn die beiden Flügel hingen schon so schief in den Angeln, dass die Bretter unten über das Pflaster schleiften. Da das Grundstück bald bebaut werden sollte, investierte Kockanz kaum noch etwas. Obwohl er keine eigenen Fuhrwerke hatte und seine Briketts und Steinkohlen mit Handkarren ausfahren ließ, musste die Einfahrt breit genug sein, damit die Wagen der Anlieferer hindurchpassten. Kockanz’ Kunden waren die Haushalte und kleinen Läden ringsum. Oft hatten die Leute so wenig Geld, dass sie mit einem Blecheimer kamen und sich fünf Presskohlen holten. Eine Goldgrube war diese Kohlenhandlung nicht, aber Kockanz besaß noch eine andere nebenan in Charlottenburg, die mehr einbrachte, und sollte, wie es hieß, auch noch über andere Einkünfte verfügen.
Tilkowski stampfte durch den schwarzgrauen Kohlengrus, als wäre es feiner, weißer Sand am Ostseestrand. Links stand die mit Karbolineum gestrichene Baracke, die Kockanz als Büro diente, und rechts gab es einige windschiefe Unterstände, um die Kohlenvorräte und das aufgestapelte Brennholz vor Regen zu schützen. Groß umzuziehen hatte er sich nicht, und so wollte Tilkowski, wie immer in der wärmeren Jahreszeit, seine abgewetzte Tasche mit der Stullenbüchse und der Flasche mit Muckefuck auf das Fensterbrett legen und dann mit der Arbeit beginnen, als er bemerkte, dass eine Scheibe des Kontors eingeschlagen war und das Fenster offenstand. Wieder einmal ein Einbruch. Er fluchte vor sich hin. Als ob hier etwas zu holen wäre! Vielleicht lag der Einbrecher noch auf Kockanz’ Couch und schlief.
Tilkowski griff sich sicherheitshalber eine Schaufel, ehe er rief, ob da jemand sei. Keine Antwort. Vorsichtig schloss er nun auf und machte sich daran, die einzelnen Räume zu durchsuchen. Die Schreib- und die Rechenmaschine sowie ein paar Groschen waren geklaut worden. Das Telefon stand noch auf dem Schreibtisch und funktionierte auch, sodass sich Tilkowski vom Amt mit seinem Chef verbinden lassen konnte. Die Polizei sollte Kockanz lieber selber anrufen.
«Mache ich», sagte Kockanz, nachdem er ausgiebig über die herrschenden Verhältnisse geschimpft hatte. «Der Mob darf ja heute machen, was er will. Nun gut. Ich komme nachher vorbei.»
Tilkowski hängte den Hörer wieder auf. Endlich konnte er anfangen. Er arbeitete gern. Es machte ihn stolz und glücklich, wenn er mit seiner Kraft und seiner Geschicklichkeit Güter und Lasten bewegen konnte. Je mehr und je schwerer, desto besser. Jeden Tag musste er sich beweisen. Wenn ihn jemand einen Kraftprotz nannte, empfand er das als Auszeichnung.
Paul Tilkowski hatte etwas Animalisches an sich, wie er mit nacktem Oberkörper in der milden Septembersonne stand und Koks in Jutesäcke schippte. So edel sein Körper auch gebaut war - für sein Gesicht hatte die Natur nur wenig übriggehabt. Wenn ihm die Spielkameraden in der Ackerstraße den Spitznamen «Neandertaler» verpasst hatten, dann sprach das für deren ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Auch überragende Intelligenz war Tilkowski schwer nachzusagen. Sein Spieß bei den «Stoppelhopsern» hatte es ganz passend auf den Punkt gebracht: «Du kannst wirklich nicht weiter denken als wie ein Bulle scheißt.» Zwei Dinge aber konnte Paule wunderbar: tanzen und die Mädchenherzen entflammen. Man erzählte sich von ihm, dass er einige Zeit in Paris gelebt und dort als Aufpasser in einem Bordell gearbeitet habe. «Da hatta ooch seine Liebeskünste her, von die Damen da.» Vorstrafen hatte er auch schon einige auf dem Konto, die meisten wegen
Weitere Kostenlose Bücher