0960 - In den Nebeln
Choquai
Ein weiterer Tag in Choquai neigte sich langsam seinem Ende zu. Die Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, färbte aber die an den Rändern leicht nach oben gewölbten Dächer goldrot, und ein milder Wind sang sein Abendlied. Schon bald würden die Lampions entzündet werden, um den menschlichen Bewohnern in den ersten Stunden der Nacht ein wenig Licht zu spenden, bevor sie schließlich zu Bett gingen. Aber noch waren die meisten Leute auf den Beinen und gingen ihren Geschäften nach. Sie kehrten vor ihren Häusern, sortierten die Ware in ihren Läden, um sie am nächsten Morgen wieder bereit zu haben und tauschten Neuigkeiten aus. Kinder spielten unbekümmert auf der Straße, ließen bunte Papierdrachen in Form von Schmetterlingen steigen und zogen sie lachend hinter sich her, wenn der Wind nachließ und sie nicht mehr von allein in der Luft blieben. Zwischen den Häusern hing Wäsche zum Trocknen, und einige Frauen beeilten sich, sie noch vor Anbruch der Dunkelheit ins Haus zu holen.
Doch Fu Long konnte den friedlichen Anblick nicht genießen. Er stand allein auf der großen Mauer, die seinen Palast umgab, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte auf die Stadt hinaus. Er wusste, dass die Ruhe trügerisch war. Nicht nur, dass es seit Monaten immer wieder Ärger mit den Vampir-Clans gab, die er aufgenommen hatte, weil sie Tan Moranos Ruf auf den Kristallplaneten nicht hatten folgen wollen. Diese Vampire sorgten für Unruhe, aber im Großen und Ganzen war es kein Problem, sie im Griff zu halten.
Doch ein weiteres Problem war nach dem Untergang der Hölle hinzugekommen. In letzter Zeit war die Nachtruhe der Stadt immer öfter gestört worden. Dämonen waren irgendwie hineingelangt, hatten jede Abwehr - ob magisch oder gewöhnlich - überwunden und in der Stadt gewütet. Bisher war es Fu Long jedes Mal gelungen, sie zu vernichten oder zu vertreiben - die meisten waren zwar recht stark, aber bei Weitem nicht stark genug gewesen, um ihn zu besiegen. Doch er war der ewigen Kämpfe müde. Er wollte nicht mehr jede Nacht in der Sorge ausharren müssen, dass wieder eine Horde heimatloser geflügelter Schrecken mit Gewalt in die Stadt eindrang und das Leben der Bewohner Choquais bedrohte. Was ist nur aus der Ordnung der Dinge geworden? , dachte er wehmütig. Der Vampir fürchtet den Einbruch der Nacht und die Ankunft der Schauerwesen, die damit einhergeht. Dabei sollte er selbst doch über die Nacht herrschen.
Es hatte bereits einen Todesfall gegeben. Ein uralter Mann war mehr oder weniger vor Schreck gestorben, als eine Horde geflügelter, lederhäutiger Wesen geifernd und kreischend auf ihn zugestürzt war. Glücklicherweise waren nicht mehr Opfer zu beklagen gewesen. Alle Angriffe hatten sich dadurch ausgezeichnet, dass sie äußerst unkoordiniert und planlos verlaufen waren. Die Dämonen handelten nicht als Einheit oder systematisch, sondern wirkten fast wie ein Schwarm orientierungsloser Fledermäuse, die wild umherflatterten und dabei alles mitrissen, was ihnen in den Weg kam.
»Als würden sie verzweifelt Schutz suchen«, murmelte Fu Long. Die Ironie seiner Worte ließ ihn kurz schmunzeln, doch er wurde fast sofort wieder ernst. Diese Angriffe mussten aufhören. Nach der Vernichtung der Hölle mochte es dort draußen Milliarden von Dämonen aller Art geben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie seine Stadt mit ihrer bloßen Masse überrennen würden. Noch waren es vereinzelte und relativ unbedeutende Gegner oder kleine Gruppen ohne Führung oder Plan, doch irgendwann würden auch zahlreichere Angreifer vor seinen Toren stehen und sich vielleicht sogar zu einer Armee zusammenschließen. Die Macht, die von der vor der Welt verborgenen Stadt ausging, zog sie alle an, und wenn die Angriffe organisierter wurden, würde Fu Long ihnen allein nicht mehr standhalten können. Selbst er konnte nicht alle auf dieser Welt verbliebenen Dämonen vernichten, auch wenn er bis in alle Ewigkeit gegen sie kämpfte.
Er seufzte auf. Er war beinahe froh gewesen, als er gehört hatte, dass die Hölle untergegangen war - enthob es ihn doch seines Amtes als Fürst der Finsternis. Nichts hatte er sich in den beiden Jahren seit der Diener des Wächters der Schicksalswaage ihn an diesen Platz gesetzt hatte, mehr gewünscht, als dieses Amt wieder los zu sein. Doch es schien, als hätten die Probleme erst mit der Vernichtung der Hölle begonnen. Er wollte keine Belagerung und keinen Krieg
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