Es: Roman
wieder an die Morlocks, an ihr nacktes Fleisch, das ganz sicher so nach Moder und Scheiße roch wie die Luft, die aus dem Kanaldeckel gekommen war. Er dachte an tiefe Brunnen, die unter die Erde führten, Brunnen mit rostigen Leitern an den Innenwänden. Er schlummerte ein, und an einem bestimmten Punkt wurden seine Gedanken zu einem Traum.
11
Er träumte jedoch nicht von Morlocks, sondern von dem, was ihm im Januar zugestoßen war, und was er seiner Mutter nicht hatte anvertrauen können.
Es war der erste Schultag nach den langen Weihnachtsferien gewesen. Mrs. Douglas hatte nach einem Freiwilligen gefragt, der ihr helfen könne, nach der Schule die vor den Ferien zurückgegebenen Bücher zu zählen, und Ben hatte sich gemeldet.
»Danke, Ben«, sagte Mrs. Douglas und lächelte ihn dabei so herzlich an, dass ihm warm wurde bis hinunter zu den Zehen.
»Streberarschloch!«, murmelte Henry Bowers.
Es war einer jener Wintertage, die sowohl wunderschön als auch sehr unangenehm sind: ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel – aber beängstigend kalt; dazu kam ein starker, schneidender Wind.
Ben zählte Bücher und las Nummern vor, die Mrs. Douglas sich notierte (stolz stellte er fest, dass sie nicht eine Stichprobe machte, ob er auch richtig vorlas). Dann trugen sie die Bücher gemeinsam in den Lagerraum hinab, durch Korridore mit einschläfernd surrenden Heizkörpern. Zuerst war die Schule noch voller Geräusche gewesen: laut zugeschlagene Türen, das Klappern von Mrs. Thomas’ Schreibmaschine im Büro, die etwas disharmonischen Klänge von einer Chorprobe im oberen Stockwerk, der laute Aufprall von Bällen aus der Sporthalle, wo Basketball trainiert wurde.
Aber allmählich verstummten all diese Geräusche, bis zuletzt – als der letzte Bücherstapel gezählt und notiert war (ein Buch fehlte, aber das spielte kaum eine Rolle, seufzte Mrs. Douglas – die Bücher fielen sowieso schon fast auseinander) – nur noch das Surren der Heizkörper, das schwache Fsch-Fsch von Mr. Fazios Besen und das Heulen des Windes vor den Fenstern zu hören waren.
Ben blickte aus dem einzigen schmalen Fenster des Lagerraums und sah, dass das Licht draußen rasch schwächer wurde. Es war vier Uhr – die Dämmerung brach an diesem Wintertag schon sehr früh herein. Schneeflocken wirbelten im Wind über den vereisten Spielplatz und über die Wippen, die so fest am Boden angefroren waren, dass sich diese Schweißnähte des Winters erst im lang anhaltenden Apriltauwetter öffnen würden. Auf der Jackson Street war kein Mensch zu sehen. Er schaute noch einen Moment länger hin in der Erwartung, einen Wagen über die Kreuzung Jackson und Witcham fahren zu sehen, aber es kam keiner. Außer ihm und Mrs. Douglas schien jeder in Derry tot oder geflohen zu sein – zumindest sah es beim Blick nach draußen so aus.
Ben schaute zu Mrs. Douglas hinüber und sah, dass sie ebenfalls aus dem Fenster starrte. Mit leichter Angst registrierte er, dass sie in vielerlei Hinsicht sehr ähnliche Gedanken haben musste wie er. Ihr Blick verriet es, der nachdenklich und irgendwie leer zu sein schien. Das waren nicht die Augen einer Lehrerin in den Vierzigern, sondern die eines Kindes. Ihre Hände waren unter der Brust gefaltet, als würde sie beten.
Ich habe Angst, dachte Ben, und sie auch. Aber wovor haben wir eigentlich Angst?
Er wusste es nicht. Dann wandte sie sich ihm zu und stieß ein kurzes, fast verlegenes Lachen aus. »Ich habe dich viel zu lange aufgehalten, Ben«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
»Das macht nichts«, erwiderte er und schaute auf seine Schuhe. Er liebte sie ein bisschen – es war nicht die rückhaltlose Liebe, die er Miss Thibodeau, seiner Lehrerin in der ersten Klasse, entgegengebracht hatte … aber er liebte sie.
»Wenn ich einen Führerschein hätte, würde ich dich nach Hause fahren«, sagte sie. »Mein Mann holt mich gegen Viertel nach fünf ab. Wenn es dir nichts ausmacht zu warten, könnten wir …«
»Das ist nicht nötig«, antwortete Ben. »Ich muss sowieso vorher schon zu Hause sein.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber ihm widerstrebte es irgendwie, Mrs. Douglas’ Mann kennenzulernen.
»Vielleicht könnte deine Mutter dich …«
»Sie hat auch keinen Führerschein«, sagte Ben. »Aber es ist wirklich nicht schlimm. Ich hab nur etwas mehr als einen Kilometer zu gehen.«
»Das ist ein weiter Weg, wenn es so kalt ist«, meinte Mrs. Douglas. »Wenn dir unterwegs zu kalt wird, musst du dich irgendwo
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