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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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aufwärmen, okay?«
    »Na klar. Dann gehe ich in Costellos Laden und stelle mich ein bisschen an die Heizung. Mr. Gedreau hat sicher nichts dagegen. Außerdem habe ich meine Schneehose und meinen neuen Schal, den ich zu Weihnachten bekommen habe.«
    Mrs. Douglas wirkte nun ein bisschen beruhigter … und dann blickte sie wieder aus dem Fenster. »Es sieht so kalt da draußen aus«, sagte sie. »So … so animos.«
    Ben kannte das Wort zwar nicht, aber er wusste ganz genau, was sie meinte. Irgend etwas war passiert … nur was?
    Ben kam plötzlich zu Bewusstsein, dass er in ihr auf einmal einen Menschen sah, nicht nur eine Lehrerin wie bisher. Das war passiert. Plötzlich sah er ihr Gesicht in einem völlig anderen Licht, weshalb es zu einem ganz neuen Gesicht wurde … dem Gesicht einer müden Poetin. Er sah sie heimfahren mit ihrem Mann, wie sie neben ihm im Auto saß, die Hände gefaltet, während das Gebläse summte, und wie er dann von seinem Tag erzählte. Er sah sie das Abendessen zubereiten. Und ein seltsamer Gedanke schoss ihm durch den Kopf, eine Frage, wie sie auf Cocktailpartys üblich ist: Haben Sie Kinder, Mrs. Douglas?
    »Um diese Jahreszeit denke ich manchmal, dass die Menschen nicht so weit nördlich des Äquators leben sollten«, sagte sie. »Zumindest nicht in diesen Breitengraden.« Dann sah sie ihn lächelnd an, und ein Teil der Fremdartigkeit verschwand entweder aus ihrem Gesicht oder aus seinen Augen – er konnte sie zumindest teilweise wieder in dem gleichen Licht sehen wie früher. Aber du wirst sie nie wieder in diesem Licht sehen, nicht komplett, dachte er bestürzt.
    »Ich werde mich bis zum Frühling alt fühlen, und dann werde ich wieder jung sein. So ist das jedes Jahr. Bist du dir sicher, dass du gut nach Hause kommen wirst, Ben?«
    »Ganz sicher«, sagte er.
    »Ja«, meinte sie. »Ich nehme es eigentlich auch an. Du bist ein guter Junge, Ben.«
    Er errötete und schaute wieder verlegen auf seine Schuhe. Er liebte sie mehr denn je.
    Im Korridor fegte Mr. Fazio rote Sägespäne zusammen. »Pass auf, dass du keine Frostbeulen kriegst, Junge.«
    »Mach ich.«
    Ben ging zu seinem Spind, öffnete ihn, holte seine Schneehose heraus und zog sie an. Er war immer furchtbar unglücklich gewesen, dass er sie tragen musste, weil sie in seinen Augen nur etwas für Babys war, aber an diesem Spätnachmittag freute er sich, sie zu haben. Langsam ging er auf die Tür zu, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, machte einen festen Knoten in die Bänder seiner Kapuze und streifte die Fäustlinge über. Er trat hinaus und blieb einen Moment lang auf dem Absatz der Außentreppe stehen, lauschte dem Schließmechanismus der Tür hinter sich.
    Der Himmel über der Schule sah aus, als trüge er lauter Blutergüsse in allen Farben des Regenbogens. Es blies ein starker Wind, der die Haken am Seil des Fahnenmasts gegen das Eisen wehte und sie einen einsamen Zapfenstreich spielen ließ. Dieser Wind unternahm sofort eine Attacke auf Bens warmes, unvorbereitetes Gesicht und ließ seine Wangen vor Kälte erstarren.
    Pass auf, dass du keine Frostbeulen kriegst, Junge.
    Rasch zog er seinen Schal hoch, bis er aussah wie eine kleine, gedrungene Karikatur von Red Ryder. Der dunkle Himmel war von einer fantastischen Schönheit, aber Ben nahm sich keine Zeit, sie zu bewundern. Dazu war es zu kalt. Er machte sich auf den Weg.
    Zuerst blies der Wind ihm in den Rücken, und das war nicht so schlimm; er schien ihn sogar richtig voranzutreiben. Aber als er an der Canal Street rechts abbog, blies der Wind ihm direkt ins Gesicht, als versuchte er ihn aufzuhalten … so als hätte er einen eigenen Willen. Sein Schal schützte Ben ein wenig vor der schneidenden Kälte, aber nicht genug. Seine Augen tränten und die Feuchtigkeit in seiner Nase fror fest. Seine Beine wurden langsam taub, und er schob seine behandschuhten Hände immer wieder in die Achselhöhlen, um sie zu wärmen. Der Wind heulte und tobte und klang manchmal direkt menschlich.
    Bens Stimmung war eine Mischung aus Furcht und Heiterkeit. Ängstlich war ihm zumute, weil er erst jetzt die Geschichten richtig verstand, die er gelesen hatte – Geschichten wie Jack Londons Das Feuer im Schnee, wo Menschen tatsächlich erfroren. In einer Nacht wie dieser, wenn die Temperatur auf minus fünfundzwanzig Grad sinken würde, wäre es nur zu leicht möglich zu erfrieren.
    Die Heiterkeit war schwerer zu erklären. Sie war verbunden mit einem Gefühl der Einsamkeit, der

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