Es: Roman
Melancholie. Er war draußen; er kämpfte mit dem Wind, und keiner von den Menschen hinter den hell erleuchteten Fenstern sah ihn vorübergehen. Sie waren drinnen, in der Wärme, im Licht. Sie wussten nicht, dass er an ihren Häusern vorbeiging, nur er wusste das. Es war sein Geheimnis.
Sein Gesicht brannte wie von tausend Nadelstichen, aber die Luft war klar und rein. Weiße Atemwolken kamen aus seiner Nase. Und als dann die Sonne unterging, der Tag sich mit einer kalten gelborangefarbenen Linie am Horizont verabschiedete und die ersten Sterne wie Diamanten am Himmel funkelten, erreichte Ben den Kanal. Jetzt war er nur noch drei Häuserblocks von zu Hause entfernt, und er freute sich schon, bald ins Warme zu kommen, wo seine erstarrten Glieder wieder auftauen würden.
Trotzdem blieb er stehen.
In Richtung Innenstadt sah der Kanal in seinem Betonbett wie ein gefrorener Rosenmilchfluss aus; in den eigenartigen Schattierungen des Wintersonnenuntergangs wirkte die Oberfläche irgendwie lebendig, krachte und stöhnte. Der Kanal strahlte eine einzigartige, schwer zu erfassende Schönheit aus.
Ben drehte sich um und blickte in die andere Richtung, nach Südwesten. Zu den Barrens hinüber. Nun hatte er den Wind wieder im Rücken. Etwa achthundert Meter weit war der Kanal noch von seinen Betonmauern umschlossen; dann endeten sie, der vereiste Fluss breitete sich aus und ging unmerklich in die Barrens über, die um diese Jahreszeit eine skelettartige Eislandschaft bildeten.
Dort unten auf dem Eis stand eine Gestalt.
Ben betrachtete sie und dachte: Das da unten mag ein Mann sein, aber kann er wirklich anhaben, was ich zu sehen glaube? Das ist doch unmöglich, oder?«
Der Mann trug ein weites weiß-silbernes Clownskostüm, das im Wind flatterte. An den Füßen hatte er ulkige, viel zu große Schuhe. Sie waren orangefarben, ebenso wie die großen Pompon-Knöpfe vorn auf seinem Kostüm. In einer Hand hielt er eine Traube von Luftballons, und als Ben feststellte, dass die Ballons in seine Richtung wehten, überkam ihn ein noch stärkeres Gefühl des Unwirklichen. Er schloss die Augen, rieb sie, öffnete sie wieder. Die Ballons schienen immer noch auf ihn zuzuschweben.
Er hörte Mr. Fazios Stimme in seinem Kopf: Pass auf, dass du keine Frostbeulen kriegst, Junge.
Es musste eine Halluzination sein oder eine unheimliche Fata Morgana, die das Wetter verursachte. Da unten konnte ein Mann auf dem Eis sein; er schätzte, dass es sogar technisch möglich war, dass er ein Clownskostüm trug. Aber die Ballons konnten nicht auf Ben zuschweben – gegen den Wind. Aber genau das schienen sie zu tun.
Ben!, rief der Clown auf dem Eis. Ben dachte, dass die Stimme nur in seinem Verstand war, obwohl er sie mit den Ohren zu hören schien. Möchtest du einen Ballon, Ben?
Und in dieser Stimme schwang etwas so Böses, so Schreckliches mit, dass Ben wegrennen wollte, so schnell er konnte … aber seine Füße schienen an den Boden angefroren zu sein wie die Wippen auf dem Spielplatz.
Sie fliegen, Ben … sie fliegen alle … versuch’s doch selbst einmal!
Der Clown begann über das Eis zu gehen, auf die Kanalbrücke zu. Ben stand regungslos auf der Brücke und beobachtete, wie er auf ihn zu kam; er beobachtete ihn, so wie ein Vogel eine näher kommende Schlange beobachtet. Die Ballons hätten in der klirrenden Kälte platzen müssen, aber sie platzten nicht; sie schwebten über dem Clown und ihm voraus, obwohl sie hinter ihm hätten wehen und versuchen müssen, in Richtung Barrens davonzufliegen … woher diese Kreatur überhaupt erst gekommen war, versicherte ein Teil von Bens Verstand ihm.
Und jetzt fiel Ben noch etwas auf.
Obwohl das letzte Tageslicht einen rosigen Schimmer über das Eis des Kanals warf, hatte der Clown keinen Schatten. Überhaupt keinen.
Dir wird es hier gefallen, Ben, sagte der Clown. Jetzt war er so nahe, dass Ben das Klapp-klapp seiner komischen Schuhe hören konnte, die über das unebene Eis kamen. Es wird dir ganz bestimmt hier gefallen, das verspreche ich dir, allen Jungs und Mädchen, denen ich begegne, gefällt es hier, denn es ist wie das Spielland in Pinocchio oder das Nimmerland in Peter Pan. Sie müssen nie erwachsen werden, und das wollen alle Kinder! Also komm! Sieh, was es zu sehen gibt, nimm einen Ballon, füttere die Elefanten, fahr Karussell! Oh, es wird dir hier gefallen, Ben, und du wirst fliegen …
Und trotz seiner Angst stellte Ben fest, dass ein Teil von ihm einen solchen Ballon wollte –
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