Es: Roman
wer hatte schon einen Ballon, der in Gegenrichtung des Windes flog? Wer hatte jemals von so etwas gehört? Ja, er wollte einen Luftballon … und er wollte auch das Gesicht des Clowns sehen, der den Kopf gesenkt hielt, so als wollte er sich vor dem Wind schützen.
Was geschehen wäre, wenn es in diesem Augenblick nicht von der Rathausuhr fünf geschlagen hätte, wusste Ben nicht … und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber sie schlug, und der Clown blickte auf, sodass Ben sein Gesicht sehen konnte.
Es ist die Mumie! O mein Gott, es ist die Mumie!, war sein erster Gedanke, der ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, dass er sich an der niedrigen Steinbrüstung der Brücke festhalten musste, um nicht ohnmächtig zu werden. Natürlich war es nicht die Mumie, es konnte nicht die Mumie sein. Oh, es gab ägyptische Mumien, sogar sehr viele, und das wusste er auch, aber sein erster Gedanke war, dass es die Mumie war – jenes staubige Monster, das von Boris Karloff in diesem alten Film gespielt wurde, der letztens spät abends im Fernsehen gelaufen war.
Nein, es war nicht die Mumie, das konnte sie nicht sein, Filmmonster waren nicht echt, das wusste jeder, sogar kleine Kinder wussten es. Aber …
Der Clown trug kein Film-Make-up. Und der Clown war auch nicht einfach nur in Binden gehüllt. Er hatte Bandagen, hauptsächlich um Hals und Handgelenke, wo sie im Wind wehten, aber Ben konnte das Gesicht des Clowns deutlich sehen. Es hatte tiefe Falten, die Haut war wie Pergament, die Wangen verfault, das Fleisch verwest. Die Haut der Stirn war aufgerissen, aber nicht blutig. Tote Lippen grinsten an einem Maul, dessen Zähne wie schiefe Grabsteine waren. Das Zahnfleisch war runzlig und schwarz. Ben konnte keine Augen sehen, aber etwas funkelte tief in diesen eingefallenen schwarzen Löchern, etwas wie die kalten Juwelen in den Augen ägyptischer Skarabäen. Und obwohl der Wind aus der falschen Richtung wehte, schien er Zimt und Gewürze riechen zu können, mit unheimlichen Chemikalien behandelte Stoffbandagen, Sand und so altes Blut, dass es zu Schuppen und Rostkörnchen getrocknet war.
»Wir alle fliegen hier unten, Ben«, krächzte der Mumien-Clown, und Ben stellte mit neuem Entsetzen fest, dass er schon die Brücke erreicht hatte, dass er sich direkt unter ihm befand, und er sah eine verdorrte, gekrümmte Hand, von der Hautfetzen herabhingen wie schreckliche Fähnchen, eine Hand, durch die wie gelbes Elfenbein die Knochen hindurchschimmerten.
Ein Finger fast ohne Fleisch liebkoste die Spitze seines Stiefels. Bens Lähmung brach. Er trampelte den Rest des Weges über die Brücke, und die Fünfuhrsirene hallte immer noch in seinen Ohren; sie hörte erst auf, als er die andere Seite erreichte. Es musste eine Fata Morgana sein, musste. Der Clown konnte in den fünfzehn Sekunden, seit die Sirene ertönt war, nicht so weit gekommen sein.
Aber seine Angst war keine Fata Morgana; und auch nicht die heißen Tränen, die aus seinen Augen quollen und eine Sekunde später auf seinen Wangen gefroren. Seine Stiefel hallten auf den Gehweg, und hinter sich konnte er hören, wie die Mumie im Clownskostüm vom Kanal heraufkletterte, ihre uralten, versteinerten Fingernägel kratzten über Eisen, alte Sehnen quietschten wie trockene Scharniere. Er konnte ihren ätzenden Atem hören, der durch Nasenlöcher pfiff, die so trocken waren wie die Tunnel unter der Cheopspyramide. Er konnte ihr Leichentuch voller sandiger Gewürze riechen und wusste, in wenigen Augenblicken würden sich fleischlose Hände, so geometrisch wie die Formen, die er mit seinem Baukasten baute, auf seine Schultern legen. Sie würden ihn umdrehen, und er würde in das runzlige, lächelnde Gesicht sehen. Der tote Fluss ihres Atems würde über ihn hinwegstreichen. Die schwarzen Augenhöhlen mit ihren funkelnden Tiefen würden sich über ihn beugen. Der zahnlose Mund würde gähnen, und er würde seinen Ballon bekommen. O ja. So viele Ballons, wie er nur wollte.
Aber als er schluchzend und atemlos die Ecke seiner Straße erreichte, mit rasend pochendem Herzen, das in seinen Ohren zu dröhnen schien, als er es endlich wagte, einen Blick über die Schulter zu werfen, war die Straße leer. Auch die Brücke mit ihren Pfeilern, dem niedrigen Geländer und dem altmodischen Kopfsteinpflaster war leer. Den Kanal konnte er von seinem Standort aus nicht sehen, aber er war überzeugt davon, dass dort jetzt ohnehin nichts mehr zu sehen wäre. Nein, wenn die Mumie keine Halluzination
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