Es: Roman
Der Verstand beschäftigte sich immer wieder damit, spielte damit wie ein Kätzchen mit einem Wollknäuel … bis man schließlich entweder verrückt oder zumindest völlig handelsunfähig wurde.
Und wenn das passiert, dachte Ben, hat Es gewonnen. Dann bin ich – sind wir – verloren.
Er spazierte die Kansas Street hinauf, scheinbar ohne festes Ziel. Und plötzlich dachte er: Was haben wir nur mit dem Silberdollar gemacht?
Er konnte sich immer noch nicht daran erinnern.
Der Silberdollar, Ben … Beverly hat dir mit ihm das Leben gerettet … dir … höchstwahrscheinlich auch allen anderen … und ganz besonders Bills Leben. Es hat mir fast die Eingeweide rausgerissen, bevor Beverly … Was? Was hat sie nur gemacht? Und wie war es möglich, dass sie damit Erfolg hatte? Sie hat Es irgendwie in die Flucht geschlagen, und wir alle haben ihr dabei geholfen. Aber wie?
Ihm fiel plötzlich ein Wort ein, mit dem er nichts anfangen konnte, das ihm aber unwillkürlich eine Gänsehaut verursachte: Chüd.
Er sah auf den Gehweg und erblickte dort kurz die Kreidezeichnung einer Schildkröte; die Welt vor seinen Augen schien zu verschwimmen. Er machte sie fest zu, und als er wieder hinsah, war es keine Schildkröte; nur ein Himmel-und-Hölle-Gitter, das der Regen schon halb weggewaschen hatte.
Chüd.
Was bedeutete das?
»Ich weiß es nicht«, sagte er laut, und als er sich rasch umschaute, ob jemand sein Selbstgespräch gehört hatte, stellte er fest, dass er von der Kansas Street in die Costello Avenue abgebogen war. Beim Mittagessen hatte er den anderen erzählt, die Barrens seien der einzige Ort in Derry gewesen, wo er sich als Kind wirklich glücklich gefühlt hätte … aber das stimmte nicht ganz, fiel ihm jetzt ein. Es hatte noch einen zweiten Ort gegeben. Entweder zufällig oder unbewusst war er an diesen anderen Ort gegangen: zur Bücherei von Derry.
Ein, zwei Minuten stand er davor, die Hände noch immer in den Hosentaschen. Hier hatte sich nichts verändert; es war immer noch dasselbe alte graue Steingebäude, und er bewunderte es jetzt wieder genauso wie als Kind. Wie so viele andere gut entworfene Steinbauten, so verwirrte auch dieses den scharfen Beobachter durch Widersprüchlichkeiten: Trotz des soliden Steingefüges wirkte es durch die Bogen und die schlanken Säulen nicht plump, sondern eher grazil; es sah vertrauenerweckend stabil aus, zugleich aber auch anmutig, und die in schmale Eisenstreifen gefassten, oben abgerundeten Fenster verliehen ihm eine gewisse Leichtigkeit. Diese widersprüchlichen Elemente bewahrten es davor, hässlich zu wirken, und Ben stellte überrascht fest, dass er dieses Gebäude liebte.
Er blickte die Straße entlang und sah die Stadthalle. Hier auf der Costello Avenue schien sich demnach nicht viel verändert zu haben. Spontan fragte er sich, ob es den Markt an der Kreuzung Costello Avenue und Kansas Street wohl noch geben würde.
Er durchquerte den Rasen und bemerkte nicht einmal, dass seine Stiefel nass wurden – er wollte einen Blick auf den Glaskorridor zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei werfen. Auch dieser war unverändert, und als Ben neben den tief hängenden Zweigen einer Trauerweide stehen blieb, konnte er in dem Korridor Leute hin und her laufen sehen. Die alte verzückte Begeisterung ergriff von ihm Besitz, und jetzt vergaß er zum ersten Mal, was zum Abschluss des Mittagessens geschehen war. Er erinnerte sich daran, dass er als Kind manchmal an dieser Stelle gestanden hatte, nur war es damals Winter gewesen, und er hatte sich durch fast hüfthohen Schnee einen Weg gebahnt und oft eine Viertelstunde hier verweilt. Er war in der Dämmerung hergekommen, erinnerte er sich, und auch damals hatte ihn der Kontrast so fasziniert, dass er darüber seine vor Kälte tauben Fingerspitzen und den schmelzenden Schnee in seinen grünen Gummistiefeln vergaß. Draußen, wo er stand, wurde es allmählich dunkel, der Himmel war im Osten aschfarben, im Westen purpurrot. Draußen, wo er stand, war es kalt, zehn Grad minus oder noch mehr, wenn der Wind – wie es oft der Fall war – von den vereisten Barrens her pfiff.
Aber dort, keine vierzig Meter von seinem Standort entfernt, liefen die Leute hemdsärmelig hin und her. Dort, keine vierzig Meter von seinem Standort entfernt, war ein heller Lichttunnel. Kleine Kinder tuschelten und kicherten da, verliebte Pärchen aus der Highschool hielten Händchen (und wenn die Bibliothekarin sie sah, rief sie sie zur Ordnung). Für ihn
Weitere Kostenlose Bücher