Es: Roman
war das so etwas wie Zauberei, herrliche Zauberei – er war damals zu jung gewesen, um diese Zauberwirkung mit so nüchternen Dingen wie elektrischem Strom und Ölheizung zu erklären. Für ihn war dieser strahlende Zylinder voll Licht und Leben, der die beiden Gebäude wie eine Lebenslinie miteinander verband, ein Wunder; es war ein Wunder, dass dort Leute umhergingen, unberührt von Dunkelheit und Kälte. Irgendwie wurden sie dadurch zu etwas Besonderem – zu gottähnlichen Wesen.
Wenn er dann schließlich seinen Standort verlassen hatte (was er auch jetzt tat) und um das Gebäude herum zum Vordereingang gegangen war (was er auch jetzt tat), blieb er immer noch einmal stehen und warf einen Blick zurück (was er auch jetzt tat), bevor die vorragende Steinmauer der Erwachsenenbücherei ihm die Sicht auf diesen Nabel pulsierenden Lebens nahm.
Leicht amüsiert über den nostalgischen Schmerz in seinem Herzen ging er die Stufen zur Tür der Erwachsenenbücherei hinauf und blieb einen Augenblick auf der schmalen, offenen Veranda hinter den Pfeilern stehen, wo es immer so herrlich kühl gewesen war, auch an den heißesten Sommertagen. Dann zog er die große eisenbeschlagene Holztür mit dem Buchschlitz in der Mitte auf und tauchte in die Stille ein.
Einen Moment lang war ihm fast schwindelig, mit solcher Kraft brach die Erinnerung über ihn herein, als das gedämpfte Licht der Kugellampen ihn umfing. Diese Kraft war nicht physischer Natur, nicht wie etwa ein Kinnhaken, es war vielmehr jenes seltsame Gefühl, dass zwei Zeitebenen sich zu überlagern scheinen und das die Menschen in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Déjà-vu-Erlebnis nennen. Ben hatte dieses Gefühl auch früher schon erlebt, aber nie mit derart überwältigender Intensität; während er so dastand, wusste er buchstäblich nicht mehr genau, wie alt er wirklich war – achtunddreißig Jahre oder elf.
Hier herrschte immer noch dieselbe behagliche Stille, die nur von einem gelegentlichen Flüstern, den schwachen Geräuschen beim Stempeln von Büchern oder Leihkarten, dem leisen Rascheln beim Umblättern von Zeitungen oder Zeitschriften durchbrochen wurde. Heute wie damals liebte er das Licht, das durch die hohen, schmalen Fenster einfiel; an diesem regnerischen Nachmittag war es so grau wie ein Taubenflügel, einschläfernd und irgendwie gemütlich.
Er ging über den Linoleumbelag des Fußbodens, dessen rotschwarzes Muster fast vollständig verblasst war, und versuchte wie früher, möglichst geräuschlos aufzutreten – die Bücherei hatte in der Mitte eine Kuppel, in der jedes Geräusch laut widerhallte.
Er sah, dass die eisernen Wendeltreppen zum Büchermagazin noch da waren, auf beiden Seiten der hufeisenförmigen Ausleihtheke, aber er entdeckte auch etwas Neues – einen kleinen käfigartigen Aufzug, der in den fünfundzwanzig Jahren, seit er und seine Mutter weggezogen waren, dort eingebaut worden war. Er fühlte sich richtig erleichtert, denn das trieb einen Keil in jenes übermächtige Déjà-vu-Gefühl.
Während er den großen Saal durchquerte, kam er sich wie ein Eindringling, wie ein Spion aus einem anderen Land vor, und er erwartete fast, dass die Bibliothekarin an der Ausleihtheke den Kopf heben, ihn mustern und sodann mit lauter Stimme rufen würde, dass jeder Leser aufschrecken und alle Blicke sich auf ihn richten würden: »Sie! Ja, Sie! Was machen Sie hier? Sie haben hier nichts zu suchen – Sie sind ein Fremder! Sie sind von früher! Gehen Sie dorthin zurück, woher Sie gekommen sind! Gehen Sie sofort, bevor ich die Polizei rufe!«
Sie schaute tatsächlich auf, ein hübsches junges Mädchen, und einen absurden Moment lang glaubte Ben, dass seine Fantasiegespinste gleich Wirklichkeit werden würden, und sein Herz pochte laut, als ihre hellblauen Augen ihn musterten. Dann wandte sie gleichgültig den Blick ab, und Ben erwachte aus seiner Erstarrung. Wenn er ein Spion war, so war er unentdeckt geblieben.
Er ging an einer der schmalen und selbstmörderisch steilen Wendeltreppen vorbei und auf dem Weg zu dem Korridor, der zur Kinderbücherei führte, stellte er amüsiert fest (nachdem er es getan hatte), dass er schon wieder in eine alte Kindergewohnheit verfallen war: Er hatte hochgeschaut, in der Hoffnung, ein Mädchen im Rock die Treppe herabkommen zu sehen. Er erinnerte sich daran (jetzt konnte er sich erinnern), dass er eines Tages im Alter von acht oder neun Jahren rein zufällig den Kopf gehoben und plötzlich einem
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