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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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war keine harte Stimme. Es war eine ängstliche Stimme. Sie wusste es; sie hatte früher schon Angst gehabt und war immer darüber weggekommen. Sie dachte, diesmal würde sie lange brauchen, um darüber hinwegzukommen.
    Der Arzt, der sie in einer kleinen Kabine vor der Unfallaufnahme des Sisters-of-Mercy-Krankenhauses achthundert Meter die Straße runter behandelt hatte, war jung und gut aussehend gewesen. Unter anderen Umständen hätte sie müßig (oder nicht ganz so müßig) daran gedacht, ihn mit nach Hause und mit auf eine sexuelle Weltreise zu nehmen. Aber sie war nicht im Mindesten geil gewesen. Schmerzen waren Geilheit nicht zuträglich. Angst auch nicht.
    Er hieß Geffin, und ihr gefiel gar nicht, wie starr er sie ansah. Er nahm einen kleinen weißen Pappbecher zur Spüle im Zimmer, füllte ihn halb mit Wasser, holte eine Packung Zigaretten aus der Schreibtischschublade und bot ihr eine an.
    Sie nahm eine, und er zündete sie ihr an. Er musste der Spitze ein oder zwei Sekunden mit dem Streichholz nachjagen, weil ihre Hand so sehr zitterte. Er warf das Streichholz in den Pappbecher. Zschschsch.
    »Wunderbare Gewohnheit«, sagte er. »Richtig?«
    »Orale Fixierung«, antwortete Kay.
    Er nickte, dann trat wieder Schweigen ein. Er betrachtete sie weiterhin aufmerksam, und das war ihr unangenehm. Sie hatte das Gefühl, als erwartete er, dass sie weinen würde, und auch das war ihr unangenehm. Sie spürte, dass sie wirklich den Tränen nahe war, und das war ihr am unangenehmsten von allem.
    »Freund?«, fragte er schließlich.
    »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
    »Hmmm.« Er rauchte, ohne den Blick von ihr zu wenden.
    »Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, jemanden anzustarren?« Es hätte ironisch klingen sollen, aber in Wirklichkeit hörte es sich wie eine flehende Bitte an: Hören Sie auf, mich anzuschauen, ich weiß selbst, wie ich aussehe, ich hab’s im Spiegel gesehen. Diesem Gedanken folgte ein anderer, den ihre Freundin Beverly vermutlich mehr als einmal gehabt hatte: Die schlimmsten Folgen der Prügel waren innerer Art – man erlitt davon so etwas wie geistige Blutungen. O ja, sie wusste, wie sie aussah. Und was noch schlimmer war – sie fühlte sich auch entsprechend. Hundeelend fühlte sie sich. Und das empfand sie als beschämend.
    »Ich sage Ihnen Folgendes nur einmal«, sagte Dr. Geffin. Seine Stimme war tief und angenehm. »Wenn ich hier Dienst habe, sehe ich etwa zwei Dutzend misshandelter Frauen pro Woche. Die Assistenzärzte behandeln etwa weitere zwei Dutzend. Hier auf dem Schreibtisch steht ein Telefon. Rufen Sie – auf meine Kosten – die Polizei an und erzählen Sie, was passiert ist und wer das getan hat. Danach hole ich dann die Flasche Bourbon raus, die dort drüben im Aktenschrank steht – ausschließlich für medizinische Zwecke, versteht sich -, und wir trinken darauf einen. Ich persönlich bin nämlich der Meinung, dass es nur ein Lebewesen gibt, das schäbiger ist als ein Mann, der eine Frau schlägt – eine Ratte mit Syphilis.«
    Kay lächelte schwach. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen«, sagte sie, »aber ich will keine Anzeige erstatten. Zumindest nicht jetzt.«
    »Hmmm«, sagte er. »Okay. Aber wenn Sie wieder zu Hause sind, sollten Sie sich genau im Spiegel betrachten, Ms. McCall. Wer immer es auch gewesen sein mag – er hat gute Arbeit geleistet.«
    Daraufhin brach sie wirklich in Tränen aus; sie konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.
    Sie hatte Beverly zum Bus gebracht und war dann nach Hause gegangen. Gegen Mittag hatte Tom Rogan angerufen und gefragt, ob sie seine Frau gesehen hätte. Er hatte sich ganz ruhig und vernünftig angehört, kein bisschen aufgeregt. Kay hatte ihm erklärt, sie hätte Beverly seit fast zwei Wochen nicht gesehen. Tom hatte sich bedankt und aufgelegt.
    Gegen ein Uhr, als sie in ihrem Arbeitszimmer saß und schrieb, hatte es an der Tür geklingelt.
    »Wer ist da?«, fragte sie.
    »Cragin’s Flowers, Ma’am – ich soll Blumen für Sie abgeben«, antwortete eine hohe Stimme, und sie war dumm genug gewesen, nicht zu erkennen, dass Tom seine Stimme verstellt hatte, sie war dumm genug gewesen zu glauben, dass Tom Rogan so leicht aufgegeben hatte, und sie war dumm genug gewesen, die Kette abzunehmen, bevor sie die Tür öffnete.
    Er war hereingestürmt, und sie kam nur bis »Mach, dass du hier raus …«, bevor seine Faust auf ihrem rechten Auge landete und ein rasender Schmerz ihren Kopf

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