Es: Roman
müssten sie es einem geistig Behinderten verständlich machen. Sie bringen es so vor, als würden sie aufgrund der Schwerkraft sagen, wenn man sie fragen würde, warum sie beim Gehen am Boden hafteten. Sie sagen es so, als handelte es sich um ein Naturgesetz, das jeder normale Mensch verstehen müsste. Und das Schlimmste ist, dass ich es tatsächlich verstehe.
Ich musste Norbert Keene noch eine letzte Frage stellen.
»Haben Sie an jenem Tag, nachdem die Schießerei begonnen hatte, jemanden gesehen, den Sie nicht kannten?«
Und Mr. Keenes Antwort erfolgte so prompt, dass ich direkt spürte, wie meine Bluttemperatur sank. »Du musst jenen Clown meinen«, sagte er. »Wie hast du denn davon erfahren, mein Sohn?«
»Oh, ich hab so was läuten gehört«, sagte ich.
»Ich habe ihn nur flüchtig gesehen. Als es so richtig heiß herging, war ich ganz in meine eigene Beschäftigung vertieft. Ich habe nur einmal einen Blick in die Runde geworfen, und da stand er hinter dem Schweden unter dem Vordach des Bijou«, sagte Mr. Keene. »Er trug kein Clownskostüm oder irgendwas in dieser Art. Nein, er hatte ein Baumwollhemd und so’ne Latzhose an, wie die Farmer sie tragen. Aber sein Gesicht war mit der weißen Schminke bedeckt, wie sie im Zirkus benutzt wird, und ein breites Clownsgrinsen war draufgemalt. Und außerdem hatte er diese Büschel falscher Haare, weißt du – orangefarben. Er sah wirklich komisch aus.
Ich habe später Lal Machen gefragt, aber der hatte den Kerl nicht gesehen, dafür aber Biff. Nur muss Biff etwas durcheinander gewesen sein, denn er behauptete, den Clown in einem der Wohnungsfenster auf der linken Seite gesehen zu haben; und als ich einmal Jimmy Gordon danach fragte – er kam in Pearl Harbor ums Leben, ging mit seinem Schiff unter, ich glaub, es war die California -, sagte der mir, er hätte den Clown direkt hinter dem Kriegerdenkmal bemerkt.«
Mr. Keene schüttelte lächelnd den Kopf.
»Es ist schon komisch, was Menschen in so einer Situation wahrzunehmen glauben, und noch merkwürdiger ist es, woran sie sich hinterher zu erinnern glauben. Du kannst dir sechzehn verschiedene Geschichten anhören, und keine zwei davon werden übereinstimmen. Nimm nur mal beispielsweise das Gewehr, das jener Kerl mit dem Clownsgesicht bei sich hatte …«
»Gewehr?«, fiel ich ihm ins Wort. »Er schoss also auch?«
»Aber ja«, sagte Mr. Keene. »Auch er schoss. Bei dem einen Blick, den ich auf ihn warf, kam es mir so vor, als hätte er eine Winchester, und erst später konnte ich mir erklären, dass ich das geglaubt hatte, weil ich selbst eine Winchester besaß. Biff Marlow glaubte, der Clown hätte eine Remington gehabt, weil er eine hatte. Und als ich Jimmy fragte, erklärte der mir, jener Kerl hätte mit einer alten Springfield geschossen, die genauso ausgesehen hätte wie seine eigene. Komisch, nicht wahr?«
»Sehr komisch«, brachte ich mühsam hervor. »Mr. Keene … hat sich denn niemand gewundert, was in aller Welt ein Clown, noch dazu ein Clown in einer Farmer-Latzhose, zu dieser Zeit an diesem Ort zu suchen hatte?«
»Natürlich haben wir uns gewundert«, sagte Mr. Keene. »Weißt du, so wichtig war uns die Sache zwar nicht, aber gewundert haben wir uns schon. Die meisten von uns erklärten es sich so, dass es sich um jemanden handelte, der gehört hatte, was passieren würde, und dabei sein wollte, der aber gleichzeitig Wert darauf legte, nicht erkannt zu werden. Vielleicht ein Mitglied des Stadtrats. Horst Mueller vielleicht, oder sogar Trace Naugler, der damals Bürgermeister war. Aber es könnte ebenso gut auch ein Arzt oder Anwalt oder sonst ein angesehener Bürger gewesen sein. Ich hätte in dieser Aufmachung nicht mal meinen eigenen Vater erkannt.«
Er lachte ein wenig, und ich fragte ihn, was denn so komisch sei.
»Es besteht auch die Möglichkeit, dass es ein richtiger Clown war«, sagte er. »In den Zwanziger- und Dreißigerjahren fand der Jahrmarkt in Esty viel früher statt als heutzutage, und in jener Woche, als wir die Bradley-Bande zur Strecke brachten, war er gerade in vollem Gange. Dort gab’s auch Clowns. Vielleicht ist einer von ihnen hergefahren, weil er gehört hatte, dass wir unseren eigenen kleinen Jahrmarktsspaß haben würden.«
Ich sah ihn starr an. Er lächelte mir zu.
»Ich bin fast am Ende meiner Geschichte angelangt«, sagte er, »aber eine Sache werde ich dir noch erzählen, weil du so aufmerksam zugehört hast und so interessiert an allem zu sein scheinst. Es
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