Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
behalten wollte, würde je wagen, dies auszusprechen. Der derzeitige Herrscher, König Julian der Gewaltige, ein Findlberg bis ins Mark, genoss nichts so sehr wie den Befehl, seine liebste Behausung noch weiter auszubauen (ließ man die Anordnung grausamer Exekutionen außer Acht), den er folglich allzu gern im Handumdrehen zu erteilen pflegte. Der Augenschein legte nahe, dass dies während etlicher vorangegangener Dekaden in verschwenderischem Maße geschehen war.
Gretel hatte das Schloss seit ihrer Kindheit nicht mehr aufgesucht. Damals, nach der Flucht aus dem Pfefferkuchenhaus und nachdem die Taten ihrer Eltern aufgedeckt worden waren, hatte König Julian sie und Hänsel einbestellt. In einer bis dato unbekannten Zurschaustellung königlicher Sorge für zwei seiner Untertanen hatte der Monarch seine Absicht erklärt, die Ausbildung der Kinder zu bezahlen und ihnen in der Stadt eine angemessene Wohnstätte zur Verfügung zu stellen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Gretel hatte den Verdachtgehegt, dass da irgendeine PR -Geschichte dahintersteckte, aber die Absichten des Königs waren nie so recht zutage getreten. Möglicherweise hatte ihn auch die Liebe geleitet, da er sich erst kurz zuvor mit der Frau verlobt hatte, die seine zweite Königin hatte werden sollen, nachdem die erste an ihren erfolglosen Bemühungen, dem König einen Erben zu schenken, verstorben war. Was den König auch zu seinem Tun bewegt haben mochte, er stand zu seinem Wort. Gretel und Hänsel hatten die besten Schulen besucht, die das Reich zu bieten hatte; bei ihrer Rückkehr waren sie in das bescheidene, aber behagliche Haus gezogen, in dem sie immer noch wohnten, und ihr Vater war in die Rubinmine von Ostvergen geschickt worden. Eigentlich hatte man ihn zum Tode mittels Ausweidung durch die Hauer eines Ebers verurteilt, doch das Urteil war umgewandelt worden, nachdem Gretel den König um Gnade angefleht hatte.
Sie hatte stets gehofft, eines Tages wieder im Sommerschloss zu Gast zu sein. Allerdings nicht unter Begleitumständen wie diesen; da war es in ihren Tagträumen romantischer zugegangen. Sie saß auf der Ladefläche des Wagens, zusammengeschnürt wie Geflügel, Rücken an Rücken mit dem streng riechenden Bauern, und wurde dank der rücksichtslosen Geschwindigkeit, mit der das Fuhrwerk von den Soldaten Richtung Schloss gehetzt wurde, durchgerüttelt bis ins Mark. Die Prinzessin saß anmutig hinter einem der bestaussehenden Soldaten, und ihre Röcke flatterten hübsch anzusehen im Wind hinter dem dahintänzelnden Ross. Gretel fürchtete, für alle Zeiten durch die unmittelbare Nähe zu Bauer Bruder beschmutzt zu sein. Schon fühlte sie eine kalte Feuchtigkeit in ihre Richtung kriechen. Ihr Haar hatte sich den Weg aus Nadeln und Lack freigekämpft und wucherte nun wild unter demkippelnden Hütchen hervor. Sie war in keinem angemessenen Zustand, sich königlichen Hoheiten zu präsentieren. Der einzige kleine Trost war, dass sie zumindest gut gekleidet war.
Auf dem Schlosshof, das Heck dem Schloss zugewandt, kam das Fuhrwerk zum Stehen. Gretel und der Bauer wurden nicht eben sanft behandelt, als man sie hineinverfrachtete. Die Soldaten schleiften sie durch endlose Gänge, deren prachtvolle Ausstattung nur so an ihnen vorbeirauschte. Gretel bemühte sich, ihre Erinnerung an das Schloss mit dem in Einklang zu bringen, was sie sah, aber es fiel ihr schwer, irgendetwas wiederzuerkennen. Da gab es gewisse Treppenfluchten, die zuvor nicht da gewesen waren, und Fenster, zu hoch angebracht, um hinausschauen zu können; dazu bergeweise Gobelins, die beinahe überall von luftig hohen Decken herabhingen. Schließlich erreichten sie eine gewaltige hölzerne Doppeltür, dekoriert mit einer kunstvollen Schnitzarbeit in den königlichen Farben Rot und Orange, unterlegt mit Gold. Der Obristwachtmeister sprach mit einer der Wachen am Eingang, die sich umdrehte, die Zeremonienaxt hob und den Stiel dazu benutzte, viermal langsam an die große Tür zu klopfen. Eine Pause trat ein, dann wurde die Tür von innen geöffnet, und die Wartenden wurden angewiesen, durch das Portal zu treten.
Der Palas war kein Ort für freundliche Begegnungen oder intime Rendezvous. Die Decke war so hoch, dass Gretel den Verdacht hegte, sie könnte ihr eigenes Wetter hervorbringen, und bemalt mit allerlei grellen Szenen, die König Julian in einer verblüffenden Zahl heroischer Eskapaden und Posen darstellten. Der Saal war riesig und hätte mühelos die gesamte Bevölkerung
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