Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
von Gesternstadt aufnehmen können, und es wäre immer noch Platz gewesen. Marmorstatuen königlicher Vorfahren säumten die Wände zu beiden Seiten. Auch der Boden war mit Marmor in großen Platten von unterschiedlicher Farbe ausgelegt, was den kuriosen Eindruck vermittelte, man würde über eine riesige Flickendecke wandeln. Am anderen Ende des Saals führten breite Stufen (noch mehr Marmor) zu einem Podest, auf dem fünf Throne standen – einer für jedes Mitglied der königlichen Familie. Der König saß auf dem größten dieser Thronsessel, allerdings brauchte Gretel eine Weile, bis sie erkannte, dass er überhaupt anwesend war. Seit sie ihren Monarchen gesehen hatte, waren fast dreißig Jahre vergangen, und man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass diese Jahre nicht gut zum Monarchen gewesen waren. Besser gesagt: Sie waren hundsmiserabel mit ihm umgesprungen. Gretel erinnerte sich an die edle, aufrechte Gestalt des Mannes, der ihr so gütig zugelächelt hatte, als sie als Mädchen vor ihm stand. Sie erinnerte sich an breite Schultern, starke, geschmeidige Glieder und eine stolze Haltung. Nun, in dem gnadenlosen Licht, das von dem kalten Gestein und den Farben rundum zurückgeworfen wurde, konnte sie nur einen schrumpeligen alten Mann ausmachen, der in den Kissen, auf die er platziert worden war, beinahe unterging. Gretel bemühte sich, ihn nicht anzustarren, aber die Veränderung, die ihr König durchgemacht hatte, war so dramatisch und unerwartet, dass sie ihre eigene prekäre Situation für den Moment völlig vergaß.
Kein Wunder, dachte sie, dass der König schon so lange nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. So, wie er aussieht, kann er sich seinen Untertanen schlecht zeigen.
Es gab ein Wort, das seine Erscheinung beschreiben konnte. Ein unvermeidliches Wort. Hutzelig. Kein besonders passendes Wort für einen König, umso weniger für einen, der den Beinamen »der Gewaltige« trug.
Hinter ihm stand eine kleine Gruppe Männer, alle fein ausstaffiert und offensichtlich bedeutsam, und doch schien es Gretel auf den ersten Blick, als stünde einer von ihnen noch eine Stufe höher als die anderen. Er war groß, düster und mehr als nur ein bisschen attraktiv. Sie schüttelte den Gedanken ab, dass Agnes vielleicht auf der richtigen Spur gewesen sein könnte. Dies war nicht der passende Augenblick, romantische Perspektiven abzuchecken. Sollte der König seiner Reputation gerecht werden, würde so oder so eine sehr lange Zeit vergehen, ehe sie die Freiheit bekäme, sich mit Gedanken herumzuschlagen, die Männer in diesem Kontext umfassten.
»Im Namen König Julians«, hallte die Stimme des Obristwachtmeisters von dem Gebirge aus Marmor wider. »Auf die Knie!«
Gretel und der Bauer taten wie geheißen. Die bedeutenden Männer traten vor, um die Halunken zu ihren Füßen besser sehen zu können. Gretel fühlte, wie ihr die Glut in die Wangen stieg, als sie an die Baumwollbüschel dachte, die aus ihren Schuhen ragten, an die wirren Haare und ihren allgemein zerzausten Zustand. Ihre Knie fingen zu zittern an.
Der König regte sich auf gezierte Art auf seinen Kissen.
»Wer sind diese … Leute?« Seine Stimme wirkte genauso entkräftet wie der Rest von ihm.
Der Obristwachtmeister verbeugte sich tief, ehe er zu seinem Monarchen sprach.
»Mein Gebieter!«, gellte er. »Prinzessin Charlotte wurde gefunden! Sie ist entführt worden von diesen beiden Bauern …«
Gretel wand sich, versuchte, sich aufzurichten. »Mit ›Bauer‹ bin ich nicht einverstanden.«
Ein schwerer, bestiefelter Fuß zwischen ihren Schulterblättern zwang sie zurück auf den Boden.
»Schweig still in Gegenwart von König Julian!«, fuhr eine der Wachen sie an.
»… diesen beiden Bauern«, fuhr der Obristwachtmeister mit großer Lautstärke fort, »die sie in ihrem Fuhrwerk in Richtung Gesternstadt transportieren wollten in der schändlichen Absicht, das Madel dort an einem unbekannten Ort zu verbergen, um ein Lösegeld zu erpressen.«
»Wo hat er das nur alles her?«, wollte Gretel wissen.
»Still!«, donnerte die Wache.
Sie zuckte zusammen, als der nächste Stiefel sein Ziel fand.
Der König wedelte schwächlich mit der Hand.
»Was sagt er?«, fragte er seine Diener. »Was hat das alles zu bedeuten?«
Einer der wichtig aussehenden Männer beugte sich nahe an des Königs Ohr heran.
»Prinzessin Charlotte«, brüllte er so laut, dass Bauer Bruder erschrocken aufjaulte.
»Charlotte?« Der König hatte
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