Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
Erinnerung an die dunklen Stunden im Käfig der Hexe verfolgte Hänsel bis heute. Schon als Bub an einer Schule, die ebenso nobel und überspannt war wie die, an die man Gretel geschickt hatte (ebenfalls auf Geheiß des Königs), hatte Hänsel im Essen Trost gesucht, was ihm Proportionen beschert hatte, die beachtlich genug waren, dass seine Schwester sich in seiner Gegenwart regelrecht schlank vorkam. Und dann, mit einundzwanzig, hatte er Bier und Schnaps für sich entdeckt. Damit war das Muster seines Erwachsenenlebens festgelegt. Aufstehen; Pfannkuchen und Kaffee mit Weinbrand im Kaffeehaus; nach Hause, Nickerchen machen; eine kleine Brotzeit zubereiten und mit einem Bier genießen; ins Gasthaus zu Kartenspiel und Bier; ein kurzer Gang zum Lebensmittelladen, um Vorräte zu kaufen; nach Hause, um sich noch mehr Essen einzuverleiben, das wiederum noch mehr Bier aufsaugen konnte; dann zurück ins Gasthaus, um Schnaps zu trinken. Dieser Ablauf konnte allenfalls unterbrochen werden, wenn Gretel ihn aufforderte, ihr etwas zu kochen, oder wenn sie ihm einendringenden Auftrag erteilte, vorausgesetzt, sie hatte es nicht eilig. Aber solche Störungen im immer gleichen Rhythmus seiner Tage waren wie Schluckauf. Die natürliche Ordnung war durch viele Jahre täglicher Praxis so sehr gefestigt, dass sie tief in ihm verwurzelt war und abgearbeitet werden konnte, ohne dass er einen Gedanken daran verschwenden musste.
Gretel hätte es niemals irgendjemandem gegenüber eingestanden, aber sie hatte Hänsel gern in ihrer Nähe. Abgesehen von seinen zweifelhaften Fähigkeiten in der Küche (ein Raum, den Gretel selbst freiwillig niemals betrat) war seine anspruchslose Gesellschaft ihr ein Trost, selbst wenn er darauf bestand, sich zu kleiden wie so ziemlich jeder bayrische Herr, der ihr je begegnet war (glücklicherweise zog er bei Lederhosen die Grenze). Wichtiger noch, sein Hang zu sprunghafter Argumentation hatte mehr als einmal in Fällen, die zu lösen Gretel schwer zu kämpfen hatte, Licht in die finstersten Ecken geworfen. Auch nur in Erwägung zu ziehen, dass sie ihn womöglich brauchte, ärgerte Gretel trotzdem.
»Ich weiß nur eins«, sagte sie, nachdem sie die Ausgrabungen im Bereich ihrer Backenzähne abgeschlossen hatte. »Ich will nicht, dass Frau Hapsburg Wind davon bekommt, was ich gefunden habe. Ein Messingglöckchen beweist noch gar nichts.«
»Und du willst ihr das Geld nicht zurückgeben.«
»Hier müssen drei potentiell entführte Katzen berücksichtigt werden und nur ein Glöckchen.«
»Und du willst ihr das Geld nicht zurückgeben.«
»Jedenfalls, die Katze könnte sich von ihrem Halsband befreit haben und weggelaufen sein, ehe das Feuer ausgebrochen ist.«
»Und du willst ihr …«
»Schluss damit!«
Hänsel blies demonstrative Rauchringe in die Luft.
»Meiner Erfahrung nach sind die Dinge nie so naheliegend, wie es scheint«, fuhr Gretel fort. »Ein paar Fragen zu stellen ist das Mindeste, was ich für die alte Schachtel tun kann. Sehen, was ich herausfinden kann.«
»Strudel wird das nicht gefallen.«
»Strudel wird genug damit zu tun haben, herauszufinden, wer auf Hunds Grundstück gegrillt worden ist.«
Hänsel zuckte mit den Schultern. »Dann solltest du wohl mal mit Agnes reden.«
Gretel stöhnte.
Hänsel schüttelte den Kopf. »Sei nicht so, das ist nicht gut. Du weißt, wie nützlich sie sein kann. Sie weiß Dinge. Sie sieht Dinge. Lass dir von ihr die Karten legen.« Er lachte kehlig und beruhigte sich gerade lange genug, um den Zigarrenstummel nicht hinunterzuschlucken. »Das wird dir gefallen!«, gluckste er. »Na los, gönn es dir.«
»Ja, haha und noch mehr ha. Hänsel, du bist nicht annähernd so witzig, wie du dir einbildest. Deine Therapiesitzungen mögen dich ja von deiner Angst vor Hexen kuriert haben, bei mir hat das leider nicht funktioniert, wie du sehr gut weißt.«
»Aber, aber. Agnes ist keine Hexe, nur eine schrullige alte Vettel.«
»Das musst du mir nicht erzählen.«
»Da gibt es einen Unterschied.«
»Keinen, der groß genug wäre, dass ich mit dieser Kreatur meine Zeit verbringen wollte.«
Hänsel zog die Brauen hoch. Gretel wusste, dass er recht hatte. Wurde irgendwo jemand oder etwas betratscht, wusste die Alte Schrulle (um sie bei ihrem offiziellen Titel zu nennen)davon. Und sie war nervenaufreibend gut darin, die verdammten Karten zu lesen.
»Also gut.« Gretel schüttelte ihre Kissen auf und wand sich in eine bequemere Lage. »Dann eben Agnes. Aber
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