Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
weil man gleichzeitig dem Frieden bei seiner stockenden Ausbreitung, dem Warenverkehr bei seiner Verästelung, der Stadt bei ihrer Verdichtung zusehen und sagen kann: Ich kannte euch schon, als ihr frisch verloren wart. Und sie werden erwidern: Wir sind es noch. Wo ist der Vogelmarkt heute? Welche Filme werden jetzt gezeigt? Wo sind die Bomber über der Stadt? Schwenken die Panzerrohre noch den Kreisverkehr ab? Halten die alten Bettlerinnen noch Babys in die Abgase, um mehr Mitleid zu stimulieren? Ja, das tun sie. Im Elend steht die Zeit.
Immer treiben auch viele Verletzte durch die baufällige Kulisse des Basars, und manches fein herausgeputzte Kleinkind schaut, mit Augen, die der Kajalstift schwarz gerändert hat, fassungslos in den Wirrwarr. Die Schminke soll den Bösen Blick abwehren und alle anderen Gefahren, die aus den Tiefen dieses Marktes aufsteigen, auch. Immer befinden sich die Kleinsten in der Obhut der Mütter und Schwestern, gestillt werden sie meist bis ins zweite Lebensjahr, werden eingewickelt und geschützt. Gegen den Bösen Blick wird auf die Wiege des Kindes oft auch noch eine Zwiebel, eine Knoblauchzehe und ein Blatt gelegt. Auch soll ein kleiner Türkis an der Kleidung der Kinder Wunder wirken. Eine Mutter, die gerade entbunden hat, soll vierzig Tage lang nicht auf den Friedhof gehen, keine Mahlzeit bei einer Beerdigung zu sich nehmen und das Kleinkind niemals alleine lassen.
Auf den Dörfern kommt es vor, dass sich die Männer, wenn die Mütter die Säuglinge stillen, zu den Frauen setzen, deren Teppiche knüpfen und sich Geschichten erzählen. Manchmal wachen sie auch über die Babys, damit die Mütter ruhiger knüpfen können. Doch weil die Männer mehrere Frauen heiraten dürfen, hinterlassen sie oft auch mehrere Witwen. So werden manche Dörfer maßgeblich von Frauen am Leben gehalten.
Der Fahrer Nabil erzählt von den Provinzen des Südens, wo die Menschen noch nie eine Südfrucht gesehen haben, ja, staunt er, »nicht einmal das Foto einer Südfrucht«. Er erzählt von ein paar japanischen Wissenschaftlern, die ganz verrückt waren nach Afghanistan, alles wussten, sich jeden archäologischen Rest ansahen und dozierten. Er klagt über die Farce der Kasseler »documenta« in Kabul: Für einen Monat bloß habe sie existiert, in einem Park, der Eintritt koste und deshalb für viele Einheimische unerschwinglich sei.
Gehen wir also in diesen, den legendären Babur-Park! Sehen wir uns die Schaukästen an, zwei Alleen lang. Sie sind leer, während die »documenta« in Kassel noch lange läuft. Auch das hat Nabil inzwischen verstanden, dass Afghanistan ein Marketing-Begriff geworden ist, mit dem man Filmen, Kunst-Schauen, ausländischen Schauspielern, Popmusikern oder auch Politikern zur Aufmerksamkeit verhelfen kann.
Unhaltbar, was dieser Park fassen, welches Leid er lindern, welche Staus er lösen soll! Doch die Liebespaare sitzen wirklich auf den Wiesen. Es liegen auch Schlafende im Schatten, und Frauen versammeln sich in Grüppchen zur Zwiesprache. Hier gibt es keine Kontrollen, man hört Musik. Ein kleiner Junge läuft herum mit einem Transistor voller Liebeslieder, und die Männer beobachten die Frauengruppen unter den Bäumen, verschleierte Frauen sind auch darunter. Es gibt Kioske, an denen Früchte verkauft werden, Kartoffelteigtaschen und frisches Wasser. Kinder spielen in den Wassergräben, Schmetterlinge sind in der Luft, und die Kanonen auf der Anhöhe, vor deren Rohre noch im neunzehnten Jahrhundert die Körper der Feinde gebunden worden waren, liegen heute über bunten Fassaden. Ja, es ist Farbe nach Kabul gekommen. Aus dem monotonen Grau der Felsen schreien die frischgestrichenen Häuser jetzt in Rosa und Grün und Hellblau.
Die Kinder zwischen den Kiosken und in den Küchen sind schon vollwertige Arbeitskräfte und schultern nicht selten die Verantwortung von Erwachsenen. In der afghanischen Gesellschaft gelten Geschlecht und Alter als die wichtigsten Kategorien in der Ordnung des Gemeinwesens. Deshalb streiten auch Frauen und Kinder nicht selten gegen dieselben Autoritäten. Dieser Widerstand aber greift, so befürchten die Strenggläubigen, die islamische Ordnung an. Und nicht nur die. Vor allem entwickelt sich hier ein Einspruch gegen die bestehende Kultur.
Nicht weit vom Babur-Park ist auch der Zoo von Kabul noch intakt. Schon bei meinem letzten Besuch war dies eine leicht verwahrloste Anlage mit wenig Grün, staubigen Erdbuckeln und ein paar zugewachsenen Gehegen
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