Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Dunkelheit die Familien und Nachbarn, die Ältesten oder die Frauen zusammensitzen, dann sind sofort die Geschichten da, die von der großen Vergangenheit handeln, der Uneinnehmbarkeit des Landes und dem Stolz seiner Stämme, oder von den glücklichen Zeiten des Friedens, als im Babur-Park die Liebenden auf den Wiesen lagen, als man ins Kino ging oder zum Buskaschi, dem legendären Reiter-Wettstreit, als sich die Familien auf den Dächern trafen, wo gesungen und Lyrik rezitiert wurde, als es die afghanische Musik noch gab, die aus den Häusern in die Gassen drang, als die wandernden Balladensänger und Geschichtenerzähler noch zu Hochzeiten und hohen Familienfesten engagiert wurden. Und manchmal rezitieren sie selbst die Zeilen, die der Dichter Ghamchoor schrieb, der lange im pakistanischen Exil lebte und dessen sehnsuchtsvolles Lied des Heimwehs, geschrieben zur Zeit der Besetzung durch die Russen, mit den Versen beginnt:
Süßer Ostwind,
sende Grüße an meine Heimat.
Den verletzten Nachtigallen im Garten
sende meine Grüße.
Küsse den Boden meiner Heimat,
küsse die Schritte der Freiheitskämpfer.
Der Wüste, die von Blut rot gefärbt,
sende meine Grüße.
Dem Gebirge,
dessen Gipfel bis zum Himmel reichen,
dem höchsten Gipfel des Pamir
sende meine Grüße.
Den Tälern,
die vom Blut bewässert und bewacht,
den stolzen Steinen, Bäumen und Büschen
sende meine Grüße.
Lass Deine Augen streifen,
streichle das Dach und die Mauern
des Hauses meiner Geliebten, und
sende meine Grüße.
Den Weinenden,
deren Gefühle verletzt wurden,
auch dem waidwunden Vogel
sende meine Grüße.
Trockne die Tränen der Kinder,
die ihre Väter verloren,
den hunderttausend Gräbern der Märtyrer
sende meine Grüße.
Den jungen Mädchen aus Kabul,
die nur rote Leichenhemden nähen
statt des Brautgewandes,
sende meine Grüße.
Bei der Einreise in die Hochsicherheitszone mit dem Namen Afghanistan wird mein Pass einmal, mein Koffer keinmal kontrolliert. Als ich das Land verlasse, wird mein Pass sieben Mal inspiziert, mein Koffer aber bloß einmal umgerührt werden. Das Durchleuchtungsgerät ist defekt. Die Beamten zucken die Achseln. Mehr Sicherheit ist heute nicht zu haben. Immerhin schwebt zur Luftüberwachung ein Zeppelin über Kabul, und um in mein Hotel zu gelangen, muss ich eine Straßensperre und drei Schleusen am Eingang passieren. Die Wachleute mit ihren frisch gewienerten Gewehren und den unbeholfenen Tätowierungen mit Herz und Pfeil und Sure tragen in ihren Gesichtern ein erloschenes Staunen darüber zur Schau, dass wir noch kommen, noch sind, wie wir sind.
Eine Farce ist die Sicherheit, ein Verkaufsargument für westliche Reisende, die sich, wenn nicht in Sicherheit, dann doch in Security wiegen wollen. Vermehrt aber haben sich nicht nur die Kontrollstationen, sondern auch die Anschläge. Vermehrt haben sich die Konsumangebote auf den Plakaten, nicht der Konsum. Man fährt zwar in eine Stadt ohne Kanalisation, ohne ausreichende medizinische Versorgung, ohne rechte Infrastruktur, doch passiert man dabei die Schneisen der Billboards mit Plakatwerbung für die Polizei, die Regierung, den Präsidenten, für Toupets und Getränke. Die Slogans lauten: »Now in Afghanistan: Pepsi« oder, neben dem Motiv eines Stammesältesten mit künstlichen Zähnen, einem Turban, einem Radio: »For the Rock ’n’ Roll in all of us.« Aus den Zeltdörfern gegenüber schwärmen die professionellen Bettler, »Punker« nennt sie der Fahrer, und meine Begleiterin Nadia, eine im Exil lebende Afghanin und Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins, fotografiert einen Abfallhaufen, weil sie in Deutschland eine Frau weiß, die sich für eine Müllverbrennungsanlage in Kabul einsetzen will.
Doch, sie lassen sich vergleichen: Militär und Konsumangebote treten brachial auf. Die humanitären Verbesserungen dagegen vollziehen sich leise und fast unmerklich. Dabei sind die Gewichtungen klar verteilt: In das Vakuum, das der Krieg zurück ließ, sind die Marktführer und die Militärstrategen am rabiatesten eingedrungen. Das Wirken der über zweitausend registrierten Hilfsorganisationen in Afghanistan ist dagegen auf »Projekte« beschränkt. Hier eine Ausbildungsstätte für Hebammen, dort ein Waisenhaus, eine Schneiderei, eine Mädchenschule. Die Strukturen aber sind die gleichen. Sie können offenbar nur vom Markt oder vom Militär verändert werden.
Die Rückkehr nach Afghanistan ist anders als die in jedes andere Land,
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