Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
gewesen, in denen sich Laufvögel in den Schatten duckten, riesige Uhus die Nacht suchten oder Schildchen mit Piktogrammen verrieten, wer hier gerade abwesend war. In einem Käfig standen damals bloß zwei Holzbetten, auf denen bleiche Knochen lagen. Die Wölfe litten unter Hospitalismus, die Bären gingen pausenlos im Kreis, und an einem anderen Käfig war ein Witz angebracht, auf dem lauter alberne Tiere Faxen machten vor dem im Käfig dösenden Homo sapiens.
Aber es gab auch schon die große Schiffschaukel, einen kleinen Imbissbetrieb, bei dem Männer und Frauen sich wechselseitig belauerten. Es gab sogar Eisbären unter den etwa sechzig hier lebenden Arten und einen Affenfelsen, auf dem die Paviane, vom Besucher getrennt durch einen brackigen Wassergraben, auch nicht sittlicher oder elender agierten als anderswo. Nur verlangsamt erschienen ihre Bewegungen, bedächtiger, und so wirkte auch ihre Exzentrik matter und etwas weniger vital.
Der kleine Junge aber, der uns noch ganz aufgeregt und mitteilungsfreudig entgegenkam, wusste es besser: Vor einer Stunde habe ein Affe den Ausbruch geschafft, erst hatte er ein Kind ins Bein gebissen, anschließend war er über alle Berge getürmt. Der Kleine konnte ihm zuerst noch folgen, dann musste er ihn laufen lassen, es war aussichtslos.
Dieser Junge war randvoll mit Geschichten aus dem Zoo, und während er erzählte, füllten sich seine Augen mit Leben. Nach und nach wurde uns damals bewusst, dass er in diesem Zoo lebte. Er wusste alles, kannte die Biographien der Tiere, besuchte sie wie Freunde, litt ihre Leiden mit. Und die eigenen? Seine Mutter starb bei seiner Geburt, sein Vater wurde von einer Mine zerrissen. Nun ging er zum Schlafen allabendlich zu entfernten Verwandten, sein wahres Leben aber war der Zoo.
Jahre später ist der Kleine nicht mehr zu finden, es fehlen auch ein paar Tiere, die ganze Anlage des Zoos aber wirkt geselliger, lichter. Paare flanieren, die Jungen- und die Mädchengruppen halten keine Sicherheitsabstände mehr ein, und die Tiere in ihren Käfigen bewegen sich wie wir: von Hochsicherheitstrakt zu Hochsicherheitstrakt. Eben reichen die jungen Männer dem Schimpansen eine Zigarette.
»Nicht!«, ruft ein Junge, aber schon wird der Glimmstängel gierig ergriffen. Die Männer haben den Affen längst süchtig gemacht, er pafft wie ein Alter.
Ich frage zwei Frauen, die vorübergehen:
»Welche Tiere mögt ihr?«
»Die kleinen und die bunten«, sagen sie, lachen mit der Zutraulichkeit junger Frauen auf der Suche nach einem Freier und warten, ob noch etwas kommt. Nein? Dann streben sie lieber zum Riesenrad. Riesig ist es nicht, läuft aber mit einer Geschwindigkeit, als wolle es sich gleich vom Boden erheben. Die Kabinen schaukeln heftig, die Passagiere verkrampfen sich in den Gondeln, jemand ruft nach Allah. Lauter junge Männer sieht man hier im selbstvergessenen Zustand.
Nicht viel später, und wir sitzen in einem Hof mit Blick auf die Straße, zwischen umgekippten Stühlen und Tischen. Durch den Herbstregen dringt Bollywood-Geleier. Dicke Tropfen klatschen auf die Brüstungen, aus den offenen Fenstern dringt ein Essenshauch. Gegenüber steht ein Bett mit Baldachin am Straßenrand. Deprimiert wirken die Rosen und Sträucher mit ihren hängenden Zweigen. Wo also liegt das Eigentliche dieser Stadt, die sich immer noch aus den Kriegszeiten hebt? Was charakterisiert heute die Persönlichkeit dieser Stadt, deren Staub vom Regen gerade niedergerungen wird, der Stadt mit den Schotterstraßen und Abfallkanälen, den gelben Taxen, am Wegrand geführten Tieren, Ziegen und Schafen vor allem, mit den streunenden Hunden, den Lasteseln, den Humpelnden im Verkehrsfluss, den Wartenden, Hockenden, Betrachtenden, die sich an einem Rondell versammelt haben, weil von hier die Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter verpflichtet werden?
Zu jeder dieser Gestalten gibt es auch eine Vorstellung von dem Innenraum, in dem sie verschwinden wird, und alles spielt sich ab in gemessener Bewegung vor einem grau-braunen Szenenbild. Alles kommt in Trauben: Wasserkessel, Zwiebeln, Melonen. Es sind Menschen darunter, die nie mehr aus dem Krieg heraustreten werden und die man anspricht, nur um sie gleich in eine Erzählung über Kampfhandlungen einbiegen zu sehen. Es kann sogar passieren, dass man zwischendurch erschreckt feststellt, wie schön manche Leidensgeschichte die Gesichter geprägt hat, wie ausdrucksvoll alles Mimische wirkt. Man sieht es beklommen. Im selben Augenblick
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