Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
im homo ludens das Urbild des Kulturwesens Mensch zu erkennen. In Afghanistan ist der spielende Mensch König in einem untergegangenen Reich. Als ich auf dem Lande Kinder nach ihrer Freizeitbeschäftigung fragte, wussten sie manchmal nicht genau, was das sein sollte, und nannten das »Tiere-Hüten« oder das »Nähen« als ihr Spiel. Es hatte sich im Bewusstsein dieser Kinder nicht als etwas Selbstverständliches durchgesetzt, dass man seine Lebensfreude im scheinbar Sinnlosen entfalten kann.
Da die Kinder aber in den Innenräumen der Häuser meist der fraglosen Autorität der Alten unterworfen, und das heißt auch in ihrer Selbstentfaltung eingeschränkt sind, liegt ihr Freiraum in den Hinterhöfen und Gärten, meist außerhalb, auf den Feldern, den Straßen, in der Natur, an den Wasserläufen und auf den Lagerplätzen für Kriegsschrott. Hier kann man ihnen, die man sonst oft brütend, betrachtend und gedankenverloren erlebt, wirklich in unbändiger Spiel- und Daseinsfreude begegnen.
Beliebt bei den Mädchen sind Spiele, in denen Musik, das Tanzen und Klatschen eine Rolle spielen. Am weitesten verbreitet ist bei den Jungen immerhin wieder das Gudi paran bazi, das Drachensteigenlassen. Allen Verboten der Taliban zum Trotz: Legendär ist es geblieben in Afghanistan. In einem Mörser wurde erst Glas zerstoßen, dann der Faden, an dem das Gestell aus Holzleisten und Papier befestigt ist, in Klebstoff gewendet, anschließend durch die Glassplitter gezogen. Dann entlässt man den Drachen in die Luft und versucht, mit dem scharfen Faden die Flugobjekte der Mitstreiter loszuschneiden. Anschließend muss das so erbeutete, frei trudelnde Trapez als Trophäe eingefangen werden.
Je höher man den Drachen fliegen lässt, umso schöner ist es. Früher stiegen sie auch von den Lehmdächern aus auf, wo man die Weintrauben, Aprikosen, Tomaten und Auberginen trocknete. Einmal im Jahr wurden diese Dächer mit Stroh und Erde isoliert. Hier trafen sich heimlich die Liebenden, oder sie verständigten sich über die Entfernung mit versteckten Zeichen. Und die Kinder, die hier mit ihren Drachen spielten, folgten der Schnur, sprangen von Dach zu Dach, fielen auch manchmal zwischen die Häuser. Es war eine Gegenwelt, die Welt der Dächer.
Vor allem in den heißen Sommermonaten spielt sich das Leben oft auf den Dächern ab. Die Familien können wegen der Hitze kaum schlafen, suchen die kühle Brise, Frauen hängen ihre Wäsche zum Trocknen oder färben Stoffe, legen sie in die Sonne. Auch Obst und Gemüse werden ausgebreitet, und wenn ein Nachbar feiert oder Frauen nicht gesehen werden wollen, dann kann man sie von hier aus beobachten, und wo verstecken sich die Kinder, die etwas angestellt haben? Auf den Dächern.
Und auch das gab es: die Geburt der Phantasie in der Verweigerung, die »Resistance« im Kinderspiel: Das Gudi paran bazi war zwar lange verboten, die Drachen aber ließen sich nicht kleinkriegen. Manchmal banden die Kinder sie einfach irgendwo fest, damit sie herrenlos über den Himmel tanzen konnten. Und wirklich, auch heute sind meist irgendwo die bunten Trapeze in der Luft.
Der Viertklässler Said Abdulkhalil schickte mir einmal einen selbstgemachten Drachen zusammen mit einem Text, den er »Meine Lebensgeschichte« betitelt hatte. Er las sich: »Ich verlor meinen Vater, als die Russen Afghanistan brutal bombardierten. Im Alter von drei Monaten bin ich in den Armen meiner Mutter Waise geworden. Ihren Erzählungen zufolge hatten wir ein schwarzes Leben. Im Alter von sechs Jahren brachte sie mich zur Schule, inzwischen gehe ich in die vierte Klasse. Während der Feiertage fahren einige meiner Klassenkameraden zum Vergnügen in andere Orte, aber weil wir arm sind, kann ich nicht mitfahren. Ich habe keine Spielsachen und muss für die Ernährung der Familie sorgen. So bin ich gezwungen, aus Plastik Drachen zu bauen. Dank einiger meiner Freunde, die mir das Geld für das Plastik und das Holz geben, kann ich meine Drachen bauen und auch verkaufen. Vom Erlös bezahle ich dann die nötigsten Schulsachen. Dies ist meine Lebensgeschichte, begleitet von einem Drachen, den ich Ihnen schenke. Mit Respekt, Said Abdulkhalil.«
Der Krieg ist nicht allein in den Spielsachen, er ist im Handwerk, im Schmuck der Gebrauchsgegenstände allgegenwärtig. Ob im Ziegenhaarzelt, in der Jurte, im Lehmhaus, überall finden sich Knüpfteppiche, Kelims, Filzteppiche, Stickereien und Webarbeiten voller kriegerischer Motive wie Raketen, Bomben,
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