Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
aus Furcht vor Schande nichts begeht, die hat es schon begangen.
Von der Gewissensfreiheit.
Man sieht sehr gewöhnlich, daß gute Absichten, wenn sie ohne Mäßigung durchgesetzt werden, die Menschen zu sehr fehlerhaften Handlungen verleiten. In dem Streit, durch welchen Frankreich anjetzt durch den bürgerlichen Krieg beunruhigt wird, ist die beste und sicherste Partei ohne Zweifel diejenige, welche die alte Religion und alte Verfassung des Landes verficht. Gleichwohl sieht man unter den redlichen Leuten, welche daran hängen (denn ich spreche nicht von solchen, die sich derselben zum Vorwand bedienen, um teils ihre persönliche Rache zu befriedigen, teils ihrem Geiz oder dem günstigen Glück der Prinzen zu folgen, sondern von denen, die aus wahrem Eifer für ihre Religion handeln und aus inniger Liebe zum Frieden und Wohl ihres Vaterlandes), von diesen, sage ich, sieht man viele, welche durch Leidenschaft die Grenzen der Billigkeit überschreiten und zuweilen ungerechte, gewalttätige und dabei unüberlegte Entschlüsse fassen. Es ist dabei wahr, daß zu den ersten Zeiten, da unsere Religion anfing, mit den Gesetzen ein hohes Ansehen zu gewinnen, der Eifer vieler Leute gegen alle Arten von heidnischen Büchern bewaffnete, wodurch die Literatur einen ungeheuren Verlust erlitten hat. Meines Bedünkens hat diese Wut der Gelehrsamkeit mehr Schaden zugefügt als alles Feuer der Barbaren. Cornelius Tacitus ist davon ein glaubwürdiger Zeuge: denn obgleich der Kaiser Tacitus, sein Anverwandter, mit seinen Annalen, durch ausdrückliches Gebot, alle Bibliotheken der Welt geziert hatte: so hat doch nicht ein einziges vollständiges Exemplar den gierigen Klauen derjenigen entwischen können, welche solche unterdrücken wollten, weil sich fünf oder sechs wenig bedeutende Stellen darin befanden, die unsere Religion nachteilig schienen. Auch das hatten sie an sich, daß sie allen Kaisern, die uns günstig waren, gern und leicht falsche Lobsprüche beilegten und durchgängig alle Handlungen derer verdammten, welche es nicht mit uns hielten, wie leicht zu ersehen ist am Kaiser Julian, dem sie den Beinamen der Apostat oder der Abtrünnige beigelegt haben. Es war in der Tat ein sehr großer und seltener Mann, ein Mann, der seine Seele mit den Grundsätzen der Philosophie erfüllt hatte und öffentlich bekannte, daß er nach solchen alle seine Handlungen einrichte; und in der Tat wüßte ich keine Art von Tugend, von welcher er nicht ein sehr merkwürdiges Beispiel hinterlassen hätte. In Absicht auf die Keuschheit, wovon der Lauf seines Lebens ein sehr helles Zeugnis gibt, liest man von ihm einen ähnlichen Zug wie vom Alexander und vom Scipio. Er wollte von verschiedenen schönen weiblichen Gefangenen nicht einmal eine einzige sehen, da er noch in der Blüte seiner Jugend stand (denn er ward von den Parthern getötet, da er noch nicht volle einunddreißig Jahre war). In Absicht auf Gerechtigkeit gab er sich selbst die Mühe, die Parteien anzuhören, und ob er gleich aus Neugierde diejenigen, die vor ihm kamen, zu fragen pflegte, von welcher Religion sie wären, so gab doch die Feindschaft, die er gegen die unsrige hegte, der Waagschale nicht den geringsten Ausschlag. Er machte selbst verschiedene gute Gesetze und erließ einen großen Teil der Subsidien oder Auflagen, welche seine Vorweser erhoben hatten.
Wir haben zwei gute Geschichtschreiber, die Augenzeugen von seinen Handlungen waren. Einer derselben, Marcellinus, erklärt sich an verschiedenen Stellen seiner Geschichte sehr bitter über eine Verordnung, durch welche er allen christlichen Rhetorikern und Grammatikern die Hörsäle verbot und verschloß, und Marcellinus sagt dabei, er wünsche, daß diese Handlung Julians in Vergessenheit begraben werden möchte. Es ist wahrscheinlich, daß wenn Julian etwas Bitteres gegen uns unternommen hätte, Marcellinus es nicht verschwiegen haben würde, weil er unserer Partei sehr geneigt war. Der Kaiser war uns freilich nichts weniger als gewogen, gleichwohl war er kein grausamer Feind, denn selbst unsere Anhänger erzählen von ihm folgende Geschichte. Als er eines Tages um die Stadt Chalcedon spazierenging, unterstand sich Maris, der Bischof des Ortes, ihn einen Gottlosen, einen Verräter Christi zu nennen. Er tat hierauf weiter nichts, als daß er ihm antwortete: "Geh, Elender, und beweine den Verlust deiner Augen!" Worauf der Bischof abermals versetzte: "Ich danke meinem Herrn Jesus Christus, daß er mir das Gesicht benommen, um
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