Etenya Saga - Band 1: Soyala - Zeit der Wintersonnenwende (German Edition)
Schulter. Sie zuckte zunächst zusammen. Doch als sie ihn näher betrachtete, bemerkte sie, dass etwas Gutes in seinen Augen lag. Da waren Verletzungen an seinem Hals und im Gesicht. Olivia war sich nun sicher, dass er es gewesen war, den sie auf Wapi Zaltana angegriffen hatte. Hatte er deshalb Angst vor ihr gehabt?
Sie legte vorsichtig ihre Hand auf seine Wunden, um ihm zu zeigen, dass es ihr leidtat. Ein aufmunterndes Lächeln umspielte vage seinen Mund, doch es wollte ihm nicht vollständig gelingen. Sie versuchte es zu erwidern, blieb aber ähnlich erfolglos. Und trotzdem hatte dieser Moment etwas Besonderes. Allerdings ging er ebenso schnell vorbei, wie er gekommen war, und Olivia schleppte sich zurück in ihr Gefängnis.
Ihre Mitgefangenen ließen sie genauso in Ruhe wie einige Tage zuvor auch Leotie bei ihrer Rückkehr. Sie verkroch sich in ihre Ecke und weinte stumm vor sich hin. Sie war fertig, am Ende, wollte einfach nur weg von diesem Ort, Etenya verlassen und niemals zurückkehren!
Sie wollte nach Hause - oder sterben.
Immer vehementer nahmen ein und dieselben Fragen in ihr Gestalt an. Je mehr sie sich dagegen wehrte, sie sich zu stellen, umso hartnäckiger durchtränkten sie ihr Denken. War es wirklich so, dass Lenno sie verraten hatte? Hatte er ihr alles vorgespielt? Seine Liebe, sein Verlangen nach ihr? Wie hatte er sie nur derart täuschen können, als er sie in sein Innerstes gelassen hatte? Hatte er ihr nur das gezeigt, was sie sehen wollte, damit sie so leichtfertig mit ihm in diese Welt kam, in der sie alleine nicht überleben konnte? In eine Welt, die so grausam war, dass Olivia es in ihr nicht mehr aushalten konnte, und auf die Lenno sie überhaupt nicht richtig vorbereitet hatte?
Entsprach es wirklich der Wahrheit, dass Lenno an jenem Tag nicht nach Wapi Zaltana zurückgekommen war, um Olivia den Jägern auszuliefern und sie dadurch endlich loszuwerden? Nur damit er seinen Auftrag abschließen konnte?
War das Treffen, um die Revolte zu planen, nur ein Vorwand gewesen?
Nach allem, was sie gemeinsam erlebt, gefühlt, ersehnt hatten, hatte er da wirklich nur an seine Familie gedacht und Olivia in eine Falle gelockt? War Lenno derart gefühlskalt?
Mit jeder Stunde, mit der Nukpanas Ankunft und ihr gemeinsames Zusammentreffen näher rückten, verließ Olivia die Kraft, sich gegen die Zweifel zu wehren und an diesem schrecklich rohen Ort an Lennos Liebe zu glauben. So bejahte sie in ihrer schmerzverzerrten Verzweiflung jede Stunde eine weitere Frage, anstatt sie zu verneinen. Irgendwann war Olivia davon überzeugt, dass Lenno sie skrupellos verführt hatte, um ihr eine Falle zu stellen. Er hatte offensichtlich entschieden, dass sie statt seiner geliebten Schwester als Sklavin von Nukpana enden sollte.
Hatte die Markierung für ihn letztendlich doch keine tiefere Bedeutung gehabt? Hatte er sie deshalb verheimlicht? Warum dauerte es sonst so lange, bis er kam und sie rettete? Ging er davon aus, dass sie hier sowieso früher oder später sterben und niemand merken würde, dass sie einmal zu ihm gehört hatte?
Und so gab Olivia mit jeder Sekunde, die sie eigentlich an Lenno hätte glauben müssen, nicht nur seine Liebe, sondern auch sich selbst auf. Ihr schmerzender und zerschundener Körper bestärkte sie in ihren Überzeugungen. Die Angst davor, was am nächsten Tag geschehen würde, wenn sie zu Nukpana gebracht wurde, tat es ebenfalls.
Selbst wenn sie gewollt hätte, Olivia hätte nicht die geringste Chance und keine Kraft mehr gehabt, sich gegen dieses schreckliche Bild von Lenno zu wehren, das sich in ihre Gedanken einnistete.
In ihrer Verzweiflung dachte sie über alle Situationen nach, die sie mit ihm erlebt hatte, spielte sie tausendmal in ihrem Kopf durch und sah Intrigen und Gemeinheiten, wo vorher nur Liebe und Vertrauen gewesen waren.
Lenno hatte sie in diese Lage gebracht. Das stand unverrückbar fest! Derselbe Lenno, den sie so unendlich geliebt, dem sie ihr gesamtes Leben anvertraut hatte. Hatte er nicht gesagt, sie sei das Wertvollste in seinem Leben? Derselbe Lenno, der ihr diese wundervollen Namen gegeben hatte. Derselbe Lenno, der sie bat, seine Markierung anzunehmen, um ein Leben lang mit ihm zusammen sein zu können. Derselbe Lenno, dem sie Türen zu ihrem Innersten geöffnet hatte, die sie zuvor gar nicht gekannt hatte. Ja, dieser Lenno!
Olivia schlug alle Türen auf einmal zu und es knallte und schallte in ihrem Innern, sodass sie sich unwillkürlich die Ohren
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