Etenya Saga - Band 1: Soyala - Zeit der Wintersonnenwende (German Edition)
das.
Ungerührt blieb der Junge stehen und wartete neugierig auf eine Antwort.
Wütend kniff Pamuya Meda ihre Augen zusammen. Es zuckte in ihrer rechten Gesichtshälfte. Verärgert, dass ausgerechnet jenes Kind ihr diese Fragen stellte, die sie ebenfalls in allen anderen Gesichtern zu erkennen glaubte, verharrte sie einen Moment in seinem Blick. Ein bedrohliches, kehliges Knurren schien aus den Tiefen ihres Körpers emporzusteigen, das den Jungen endgültig in seine Schranken weisen sollte.
Ängstlich zog ihn seine Mutter am Arm, sodass er sich, wenn auch widerwillig, zurück auf seinen Platz setzen musste. Der zornige Blick der Alten bohrte sich tief in seinen, versuchte, in ihn einzudringen und ihn zum Schweigen zu bringen.
Dabei öffnete Pamuya Meda wieder ihre Lippen und verkündete mit einem unheimlichen Zischeln: „Sie ist die Ersehnte, die für unser Volk singen wird. Ihr Name ist Onida Kanti.“
***
Wenn sie ihre Geschichte selbst erzählen könnte, würde sie damit beginnen, dass alles vor vielen Jahren seinen Anfang nahm. Zu einer Zeit, als sie noch jung war. In einem Alter an der Grenze zum Erwachsenwerden, in dem die Weichen für ihr gesamtes Leben gestellt werden sollten. Sie würde dazu auffordern, wachsam zu sein, bevor Dinge geschehen, gegen die man nicht ankämpfen kann.
Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden und sie nun daran hindern, ihre Geschichte jemals selbst zu erzählen.
Schicksal
„Das antike Schicksalsverständnis beruht auf der Erkenntnis, dass der egozentrische Wille, sein eigenes Schicksal zu manipulieren, der Ursprung des Leidens ist“, rezitierte der Lehrer mit seiner schleppenden, unmelodischen Stimme, während Olivia dagegen ankämpfte, dass ihr Kopf auf die Tischplatte knallte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Gähnen zu verstecken.
„Schicksal ist ein anderer Name für die Gemeinschaft von Mensch und Natur, das Mandala des in sich unendlich ineinander verwobenen Seinsganzen“, referierte diese einschläfernde Stimme weiter, und Olivia beugte sich zu ihrer Tischnachbarin.
„Und ich dachte, wir hätten Philosophie gewählt. Komme mir vor wie im Esoterik-Kurs meiner Mutter“, flüsterte sie im Halbschlaf.
Ihre Freundin prustete leise los. „Nur noch eine Minute, dann ist die Stunde vorbei“, kommentierte diese erleichtert.
Olivia packte ihre Tasche.
Philosophieren über den Schicksalsbegriff und das dienstags in der letzten Stunde. Das war einfach zu viel! Ob ein vorbestimmtes, unverrückbares Schicksal existierte? Da gab es für Olivia nur eine Antwort: Der Glaube an das Schicksal war etwas für Spinner. Sie nahm ihr Leben lieber selbst in die Hand. Das war sicherer.
Im nächsten Moment ertönte der Schulgong. Olivia sprang blitzschnell von ihrem Stuhl auf, als hätte sie seit Jahren das erste Mal Freigang aus dem Knast, und raste zur Tür. Tatjana, ihre beste Freundin, kicherte immer noch über ihre Bemerkung und versuchte, den Anschluss nicht zu verlieren.
Die beiden hatten sich direkt am ersten Tag an ihrer neuen Schule kennengelernt. Tatjana war Olivia sofort wegen ihrer blonden Korkenzieherlocken aufgefallen, die bei jedem Schritt lustig hin und her wippten. Diese passten so schön zu Tatjanas aufgeweckten, braunen Augen, die ebenfalls die ganze Zeit neugierig und fröhlich durch die Gegend huschten. Das hatten sie genau in dieser Art an jenem ersten Tag getan, bis sie an Olivia hängen geblieben waren. In diesem Augenblick hatte nicht nur ihr Mund gekichert, sondern auch ihr Gesicht und ebenso ihre Haare. Ge-nau das hatte Olivia irgendwie ein gutes Gefühl in dieser fremden Umgebung gegeben und deshalb verband die beiden Mädchen von diesem Moment an eine unzertrennliche Freundschaft. Zufälligerweise hatten sie annähernd die gleiche Fächerkombination gewählt, sodass sie den Großteil des Schultages zusammen verbrachten.
„Oh, Mist“, fluchte Olivia plötzlich. Die Freundinnen quälten sich durch die Gänge des Schulgebäudes. Geduckt und mit hochgezogenem Kragen ihrer Jacke versuchte Olivia, ihr Gesicht abzuschirmen, um sich vor jemandem zu verstecken. Tatjana sah sie zunächst verwirrt an, doch kurz darauf entdeckte sie Sven, der halb über ein Mädchen gebeugt an einer der Säulen in der Pausenhalle stand und kräftig flirtete. Sie schüttelte grinsend den Kopf.
Fluchtartig jagten die beiden zum Ausgang, und erst als sie das Gebäude verlassen hatten, fragte Tatjana neugierig: „Was ist denn mit Sven und dir los?“
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