Etenya Saga - Band 1: Soyala - Zeit der Wintersonnenwende (German Edition)
erhielt sie lediglich ein wütendes Schnauben.
An der Bushaltestelle angekommen, lehnte sich Olivia an die äußere Glasscheibe des Haltestellenhäuschens, sah ihre Freundin verdrossen an und sagte aufgebracht: „Du willst wissen, was mit Sven und mir los ist? Das kann ich dir sagen. Er hat mich verraten und verkauft, der Blödmann.“
Tatjana hob verwundert die Augenbrauen, zog die Schultern hoch und fragte mit tanzenden Locken: „Und wie hat er das gemacht, Livi?“
„Er fährt mit meinem Vater - ja, du hast richtig gehört! Meinem Vater! - zu einem dreitägigen Segeltörn, und zwar ohne mich. Er hat sich noch nicht einmal mit einem Piep dafür eingesetzt, dass ich mitfahren kann und das, obwohl wir sonst immer zusammen unterwegs waren. Das ist mit mir und meinem lieben Fast-Bruder Sven los.“
„Das ist ja fies“, empörte sich Tatjana energisch, wich Olivias Blick aus und quietschte im nächsten Moment: „Da kommt mein Bus! Sorry, bis morgen!“
Augenblicklich verschwand sie auf der Treppe der Unterführung zur anderen Seite der Straße und ließ Olivia mit ihren aufgewühlten Gefühlen alleine zurück. Diese starrte hinter ihrer besten Freundin her und konnte es nicht fassen.
Kurze Zeit später kam ihr eigener Bus und sie stieg frustriert ein. Glücklicherweise ergatterte sie einen Fensterplatz, stellte ihre Tasche auf den Boden zwischen ihre Füße und legte ihre Stirn gegen die kühle Scheibe.
Olivia hatte in ihrer durchaus ungewöhnlichen und etwas verworrenen Familienkonstellation immer gedacht, dass Sven der Einzige von allen sei, den sie für nichts in der Welt hergeben würde. Aber momentan war sie sich da nicht mehr so sicher.
Ihre Eltern, Nora Kleine und Dietmar Neuhaus, hatten sich fünf Jahre zuvor getrennt. Genauso alt war Olivias Halbschwester Emily, die ihr Vater mit seiner jetzigen Frau Stella gezeugt hatte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch mit Nora verheiratet gewesen war. Deshalb war sich Olivia nicht sicher, ob sie die beiden mochte. Sie hatten immerhin ihre Familie kaputt gemacht.
Die neue Frau ihres Vaters hatte in diese Patchworkfamilie einen Sohn eingewebt, der 18 Monate älter war als Olivia. Das war Sven.
Obwohl sie genau genommen nicht miteinander verwandt waren, ähnelten sie sich in mancherlei Hinsicht trotzdem ungemein. Daher verstanden sich Olivia und Sven in der Regel außergewöhnlich gut, abgesehen von ihrer gegenwärtigen Meinungsverschiedenheit. Es war fast so, als seien sie wirklich Geschwister, denn sie hatten den gleichen Humor, ähnliche Interessen, und selbst ihre Art zu lachen war nahezu identisch.
Olivia lächelte bei dem Gedanken vor sich hin, lehnte sich in ihrem Sitz nach hinten und schaute während der Busfahrt nach draußen.
Von gegenseitiger Neugier oder gar einem Hauch von Sympathie war am Anfang zwischen den beiden allerdings rein gar nichts zu erahnen. Eher das absolute Gegenteil war der Fall.
Bei ihren ersten Besuchen im neuen Zuhause ihres Vaters hatte die damals Dreizehnjährige Dietmars Stiefsohn lediglich durch seine laute Musik wahrgenommen, die er demonstrativ in seinem verschlossenen Zimmer gehört hatte. Olivia hatte es nicht besonders gestört, denn sie konnte diesen Sven ohnehin nicht leiden.
Damals hatte ihr Vater beschlossen, dass sie in den nächsten Herbstferien zu dritt zum Zelten fahren, damit sich die neuen Familienmitglieder besser kennenlernen konnten. Keiner der beiden war jedoch davon begeistert gewesen, und es schien immer deutlicher zu werden, dass das Einzige, was sie gemeinsam hatten, ihre gegenseitige Ablehnung war. Nach langem Hin und Her ging Dietmars Rechnung letztendlich doch auf und Olivia und Sven erlebten zusammen die tollsten Ferien aller Zeiten.
So hatte es sich ergeben, dass sie, sobald die Herbstferien begonnen hatten, regelmäßig in dieser Dreierkonstellation einige Tage gemeinsam wegfuhren. Doch diesmal wollte Dietmar allein mit Sven in See stechen und schuldete seiner Tochter eine Erklärung, die jedoch nicht kam. Dies hatte den Streit zwischen Sven und ihr ausgelöst, und Olivia vermied seither konsequent den Kontakt zu ihm.
Bei diesem Gedanken schnaubte sie wieder wütend vor sich hin und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. Durch einen Seitenblick zu dem Typen neben sich bemerkte sie peinlich berührt, dass er sie dabei beobachtete. Schnell holte sie ihr Französischbuch heraus und vergrub ihr Gesicht in den Vokabelseiten. Erst als der Bus an ihrer Haltestelle hielt, kam sie
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