Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
gut nachvollziehen, warum die Ethik in ihrer Geschichte zwei Grundformen, nämlich eine philosophische und eine theologische, ausgebildet hat. Man kann das Thema der menschlichen Freiheit so behandeln, dass man vom Gottesbezug des Menschen absieht. Man kann aber die Endlichkeit und Fehlbarkeit des Menschen auch zum Anlass nehmen, das Gottesverhältnis des Menschen ausdrücklich einzubeziehen. Die hier vorgelegte Ethik geht den zweiten Weg; das geschieht immer wieder im Dialog mit philosophischen Positionen.
Meine Überlegungen stützen sich auf die evangelische Gestalt christlicher Ethik. Der evangelischen Ethik geht es um verantwortete Freiheit als Lebensform. Im Gespräch mit der philosophischen Ethik bringt die evangelische Ethik den Gesichtspunkt ein, dass diese Freiheit nicht einfach vom Menschen selbst hervorgebracht wird, sondern ihm anvertraut ist; sie macht ferner geltend, dass wir Menschen im Gebrauch dieser Freiheit immer wieder scheitern und auf die Kraft zu einem neuen Anfang angewiesen bleiben. Von wichtigen Traditionen der katholischen Moraltheologie unterscheidet sich evangelische Ethik heute vor allem dadurch, dass sie nicht als Gesetzesethik, sondern als Verantwortungsethik konzipiert ist.
Religion und Ethik
Religiöse Überzeugungen oder säkulare Einstellungen beeinflussen, wie Menschen beurteilen, was individuell oder kollektiv richtig und gut ist. Sie wählen eine Lebensform, die nach ihrer Auffassung dem elementaren Vertrauen und den grundlegenden Wahrheiten entspricht, an denen sieihr Leben ausrichten wollen. Die Entsprechung zwischen Wahrheit und Lebensform, zwischen grundlegenden Wertüberzeugungen und Lebensweise ist ein Thema aller Religionen, ja aller Weltsichten. Deshalb ist es sinnvoll, von «religiöser Ethik» zu sprechen und unter diesem Titel die ethischen Anschauungen verschiedener Religionen darzustellen und miteinander zu vergleichen (vgl. Schweiker 2008).
Jede religiöse Ethik bezieht sich auf eine Lebenspraxis, die auf die eine oder andere Weise die grundlegenden Haltungen einer Überzeugungsgemeinschaft widerspiegelt. Im Zusammenhang christlicher Theologie ergeben sie sich aus den Weisungen, die in den Traditionen des Judentums und des Christentums verankert sind. Beispiele dafür sind die Zehn Gebote (2. Mose 20,1ff.), die Goldene Regel («Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch» – Matthäus 7,12) oder das Gebot der dreifachen Liebe: zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst (Matthäus 22,37ff.).
Wie können universalistische Normen für die Einzelnen verbindliche Bedeutung gewinnen? Deren schlüssige Begründung reicht dafür allein nicht aus. Verbindlichkeit entwickelt sich vor allem im gemeinsamen Leben von Familien, Peergroups oder religiösen Gemeinschaften. Für den moralischen Konsens in einer pluralistischen Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, ob die universalistischen Prinzipien, die das moralische Verhalten bestimmen sollen, in den Überzeugungen, Glaubenshaltungen und religiösen Praktiken der verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft verankert sind. Der amerikanische Rechtsphilosoph John Rawls hat in solchen Zusammenhängen von einem «übergreifenden Konsens»
(overlapping consensus)
zwischen diesen Gruppen gesprochen (Rawls 1992: 293ff.). Ein solcher Konsens ist für moralisches Verhalten von erheblicher praktischer Bedeutung. Moralische Überzeugungen drohen ihre motivierende Kraft zu verlieren, wenn sie aus dem Zusammenhang mit ethisch gehaltvollen Lebensformen gelöst werden (Habermas, Zukunft 2001: 12ff.).
In einer pluralistischen Gesellschaft stehen unterschiedliche Überzeugungsgemeinschaften nebeneinander. Ihre Differenzen betreffen auch grundlegende Wertüberzeugungen. Dennoch kann eine theologische Ethik sich nicht darauf beschränken, christliche Überzeugungen als Inhalt eines kirchlichen Gruppenethos zu entfalten. Vielmehr gehört es zu ihren Aufgaben, dieses Ethos zu anderen ethischen Haltungen insVerhältnis zu setzen. Darüber hinaus geht es im christlichen Ethos stets auch um die Ordnung der Gesellschaft im Ganzen. Es beschränkt sich nicht auf die Menschen, die zu einer christlichen Gemeinschaft gehören, sondern tritt auch für die Achtung der Würde aller und die Wahrung ihrer Rechte ein. Es ergreift Partei für die Schwächeren, in ihren Rechten Beeinträchtigten und in ihrem Leben Gefährdeten – und zwar unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Glaubens- oder
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