Eugénie Grandet (German Edition)
– reiner, als selbst die Jungfrau Maria gewesen. Da wurde Grandet von Mitleid ergriffen und sagte, sie anblickend: »Die arme Nanon!«
Dieser Ausruf wurde von der alten Magd jedesmal mit einem langen seltsamen Blick quittiert und war jedesmal ein Glied mehr in der Freundschaftskette die sie mit ihrem Herrn verband.
Grandets Mitleid, das dies arme Mädchen so beseligt hinnahm, war unrein und häßlich; es war das grausame Mitleid des Geizhalses, der im Innern Vergleiche zieht und sich selbst glücklich preist – für Nanon aber war es die Summe der Glückseligkeit. Wer wollte da nicht ebenfalls sagen: »Arme Nanon!« Gott wird seine Engel am bebenden Ton ihrer Stimme erkennen und an ihren tiefgeheimen Schmerzen.
Es gab in Saumur eine ganze Anzahl Haushaltungen, in denen es den Dienstboten besser ging als der Großen Nanon bei Grandets, und dennoch waren jene unzufrieden und mürrisch. Da hieß es dann wohl: »Was machen nur die Grandets mit ihrer Großen Nanon, daß sie so anhänglich ist? Sie würde für sie durchs Feuer gehen!«
Ihre Küche, deren vergitterte Fenster auf den Hof blickten, war stets peinlich sauber und frostig – so recht die Küche eines Geizhalses, in der niemals etwas verloren gehen darf. Hatte Nanon ihr Geschirr gespült, die Reste des Mittagsmahls unter Verschluß getan und das Feuer gelöscht, so verließ sie die Küche, die mit dem Saal durch einen Gang verbunden war, und begab sich zum Hanfspinnen zu ihrer Herrschaft hinein. Ein einziges Talglicht beleuchtete diese häuslichen Abende. Das Schlafkämmerchen der Nanon lag am Ende des Küchenganges und bekam sein Licht von einem elenden kleinen Fensterchen. Ihre robuste Gesundheit gestattete ihr, dies Loch ungestraft zu bewohnen, und von hier aus konnte sie das ganze Haus überwachen und bei der tiefen Ruhe, die Tag und Nacht im Hause herrschte, das geringste verdächtige Geräusch vernehmen. Sie mußte wie ein Polizeihund nur auf einem Ohr schlafen und überhaupt im Wachen ruhen.
Die Beschreibung der andern Räumlichkeiten des Hauses Grandet wird den Begebenheiten dieser Erzählung eingefügt werden; doch genügt schon die Skizzierung des Saales, in dem der ganze Luxus des Hauses sich breitmachte, um die Nacktheit der andern Räume erraten zu lassen.
Es war Mitte November des Jahres 1819, als gegen Abend die Große Nanon zum erstenmal mit der diesjährigen Winterfeuerung begann. Der Herbst war sehr schön gewesen, und heute war ein Festtag – den Cruchotanern und Grassinisten wohlbekannt. Die feindlichen Parteien bereiteten sich auch, ihre je drei Vertreter in voller Rüstung auf den Plan zu schicken, um einander in Ergebenheitsbeweisen für die Grandets zu überbieten. Am Morgen dieses Tages hatte ganz Saumur gesehen, wie Mademoiselle und Madame Grandet, von Nanon begleitet, sich in die Pfarrkirche zur Messe begeben hatten, und ein jeder erinnerte sich, daß heute Mademoiselle Eugénies Geburtstag war. Aber der Notar Cruchot, der Abbé Cruchot und Monsieur Cruchot de Bonfons berechneten, wann das Abendessen beendet sein könne, und beeilten sich, vor den des Grassins zu erscheinen, um die ersten zu sein, die Mademoiselle Grandet gratulierten. Alle drei trugen riesige Bukette in Händen; die Blumen dazu hatte jeder seinem kleinen Gewächshaus entnommen. Der Strauß, den der Präsident zu überreichen gedachte, war sehr sinnig von einem weißen Atlasband mit goldenen Fransen umwunden.
An diesem Morgen war Monsieur Grandet, wie das am Geburts- und auch am Namenstage seiner Tochter seine Gewohnheit war, an ihr Bett getreten und hatte ihr feierlich sein väterliches Geschenk überreicht, das seit dreizehn Jahren in irgendeiner seltenen Goldmünze bestand. Madame Grandet beschenkte ihre Tochter regelmäßig mit einem Winter- oder Sommerkleid, je nach der Jahreszeit. Diese beiden Gewänder und die Goldstücke, die sie auch noch am Neujahrstag und am Namenstag ihres Vaters erhielt, bildeten ein kleines Einkommen von etwa hundert Talern, von dem Grandet gern sah, daß sie es sparte. Hieß das nicht, sein Geld von einer Kasse in die andere tun und in der Tochter den eigenen Geiz großziehen? Dann und wann verlangte er von ihr Rechenschaft über ihren Goldschatz, der auch durch das Erbe der la Bertellière vergrößert worden war; und oftmals sagte er zu ihr: »Dies wird dein Heiratsdutzend sein!«
Das »Dutzend« ist ein alter Brauch, der in einigen Gegenden Mittelfrankreichs noch geübt und heilig gehalten wird. Wenn in Berry oder in Anjou
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