Eugénie Grandet (German Edition)
den Mund.«
Eugénie erfuhr und lernte jetzt, daß das liebende Weib seine Gefühle verbergen muß. Sie gab keine Antwort.
»Ich erwarte, Madame Grandet, daß Sie ihm nichts davon sagen, bis ich wieder zu Hause bin«, fuhr der Alte fort. »Ich muß zu meinen Wiesen hinunter und die Anlegung eines Grabens beaufsichtigen. Zum zweiten Frühstück bin ich wieder hier, und dann werde ich mit meinem Neffen von seinen Angelegenheiten sprechen. – Was dich betrifft, Eugénie, wenn es dieser Laffe ist, für den deine Tränen fließen, so laß es nun genug sein, mein Kind. Er wird fortreisen – nach Indien. Du wirst ihn nicht wiedersehen...«
Der Vater nahm seine Handschuhe, die wie immer auf dem Hutrand lagen, zog sie mit gewohnter Ruhe an und schob sie fest, indem er die gespreizten Finger beider Hände ineinanderdrückte; dann ging er.
»Ach, Mama, ich ersticke!« rief Eugénie, als sie mit ihrer Mutter allein war. »Ich habe noch nie einen solchen Schmerz gefühlt!«
Madame Grandet, die ihre Tochter erbleichen sah, öffnete das Fenster und ließ sie die frische Luft einatmen. »Ich fühle mich besser«, sagte Eugénie nach einem Weilchen.
Diese nervöse Aufregung bei einer sonst ruhigen und kühlen Natur machte auf Madame Grandet Eindruck. Mit dem verständnisvollen Mitgefühl, das alle Mütter für den Gegenstand ihrer Zärtlichkeit empfinden, blickte sie auf ihre Tochter – und erriet alles. Denn in Wahrheit: das Leben jener weltberühmten ungarischen Zwillingsschwestern, die durch einen Irrtum der Natur aneinandergefesselt waren, konnte nicht inniger gewesen sein als das Leben Eugénies und ihrer Mutter, die immer zusammen in dieser Fensternische saßen, zusammen in die Kirche gingen und selbst im Schlaf dieselbe Luft einatmeten.
»Mein armes Kind!« sagte Madame Grandet und drückte Eugénies Kopf an ihre Brust.
Bei diesen Worten blickte das junge Mädchen forschend auf, prüfte die geheimen Gedanken der Mutter und sagte: »Warum ihn nach Indien schicken? Muß er nicht hier bei uns bleiben, wenn er unglücklich ist? Ist er nicht unser allernächster Verwandter?«
»Ja, mein Kind, das wäre gewiß das Natürliche; aber dein Vater hat seine Gründe, wir müssen sie respektieren.«
Mutter und Tochter setzten sich schweigend wieder hin, die eine auf ihren erhöhten Sitz, die andere in ihren kleinen Sessel; und alle beide nahmen die Arbeit wieder auf. Überwältigt von Dankbarkeit für die unerschöpfliche Herzensgüte ihrer Mutter, küßte Eugénie ihr die Hand und sagte: »Wie gut du bist, liebe Mama!«
Diese Worte ließen das kummermüde Gesicht der alten Mutter aufstrahlen.
»Gefällt er dir gut?« fragte Eugénie. Madame Grandet antwortete nur mit einem Lächeln; dann, nach kurzem Schweigen, fragte sie mit leiser Stimme: »Liebst du ihn denn schon? Das wäre schlimm!«
»Schlimm?« entgegnete Eugénie. »Weshalb? Er gefällt dir, er gefällt Nanon, weshalb sollte er mir nicht gefallen? Komm, Mama, wir wollen ihm den Frühstückstisch decken.«
Sie warf ihre Näharbeit hin; die Mutter tat desgleichen, aber sie sagte noch: »Du bist toll!« Dennoch rechtfertigte sie die Tollheit der Tochter, indem sie sie unterstützte.
Eugénie rief Nanon herbei.
»Was wollen Sie noch, Mademoiselle?«
»Nanon, du wirst doch Rahm zu Mittag haben?«
»Oh, zu Mittag, ja!« erwiderte die alte Magd.
»Also, Nanon, mach ihm einen recht starken Kaffee. Ich hörte gestern, wie er zu Monsieur des Grassins sagte, daß man in Paris sehr starken Kaffee trinkt. Nimm also recht viel.«
»Und woher soll ich ihn denn nehmen?«
»Kaufe welchen!«
»Und wenn ich Monsieur Grandet begegne?«
»Er ist auf seinen Wiesen.«
»Gut; ich laufe. Aber Monsieur Fessard hat mich schon gefragt – gestern, als ich das Wachslicht kaufte –, ob wir die drei Heiligen aus dem Morgenlande zu Besuch haben. Die ganze Stadt wird unsern Übermut erfahren.«
»Wenn dein Vater etwas merkt«, sagte Madame Grandet, »so ist er imstande, uns zu schlagen.«
»Gut, so wird er uns schlagen. Wir werden auf den Knien seine Schläge hinnehmen.«
Madame Grandet hob statt aller Antwort die Augen gen Himmel.
Nanon nahm ihre Haube und ging.
Eugénie deckte den Tisch mit einem frischen Leintuch und stieg dann hinauf in die Bodenkammer, um einige Weintrauben zu holen, die sie unlängst in kindlicher Freude auf Schnüre gereiht und hier aufgehängt hatte. Leichtfüßig schritt sie den Gang entlang, um ihren Cousin nicht zu wecken; doch konnte sie sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher