Eugénie Grandet (German Edition)
die schöne Annette, die tausend Scherze mit ihm trieb, sie lehrte Charles nüchtern denken: sie sprach ihm von seiner zukünftigen Lebensstellung, während ihre duftende Hand sein Haar streichelte; während sie ihm zierliche Löckchen drehte, lehrte sie ihn den Ernst des Lebens erfassen: sie verweichlichte ihn und lehrte ihn dabei praktisch denken. Es war eine doppelte Verderbnis, aber eine Verderbnis, die vornehm und geschmackvoll wirkte.
»Sie sind unbeholfen, Charles«, sagte sie zu ihm; »Sie werden mir rechte Mühe machen, bis Sie weltgewandt sind. Sie waren recht unfreundlich zu Monsieur des Lupeaulx. Ich weiß wohl, daß er kein großer Ehrenmann ist; aber warten Sie, bis er machtlos ist, dann können Sie ihn nach Herzenslust verachten.
Wissen Sie wohl, was Madame Campan uns lehrt? ›Meine Kinder, solange ein Mann im Ministerium ist, betet ihn an; fällt er, so helft ihn auf den Schindanger werfen. Solange er Macht hat, ist er wie ein Gott; hat man ihn vernichtet, so ist er weniger als Marat im Rinnstein, denn er lebt noch, Marat hingegen ist tot. Das Leben ist eine Reihe von Kombinationen, und man muß diese studieren, ihnen folgen, um sich stets in einer guten Position erhalten zu können.« Charles war eine viel zu oberflächliche Natur, war viel zu verhätschelt von seinen Eltern und viel zu verwöhnt von der Gesellschaft, als daß er ein tiefes Gefühlsleben hätte haben können. Das Goldkörnchen, das seine Mutter in sein Herz, gesenkt hatte, war in der Schule des Pariser Lebens längst zu einem dünnen Plättchen verschabt worden, zu einer spärlichen Vergoldung, die bald gänzlich abgenutzt sein würde. Aber Charles war erst zweiundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter sind Lebensfrische und Reinheit der Seele noch etwas Selbstverständliches. Stimme, Blick und Mienenspiel scheinen in Harmonie zu stehen mit den Empfindungen des Herzens. Auch dem hartherzigsten Richter, dem ungläubigsten Sachwalter, dem mißtrauischsten Wucherer wird es schwer, an kalte Berechnung, an die Verderbtheit der Seele zu glauben, solange die Augen des Verdächtigten noch in reinem Glänze schwimmen und die Stirn keine Runzeln trägt. Charles hatte noch nie Gelegenheit gehabt, die Regeln des Pariser Sittenkodex praktisch anzuwenden, und bis heute war er schön, weil er unerfahren war. Aber der Egoismus war ihm schon frühzeitig eingeimpft worden — er wußte es nur nicht. Die Keime zu einer rücksichtslosen Lebensführung, wie sie dem Pariser selbstverständlich ist, ruhten noch verborgen in ihm; aber sie würden nicht zögern, in seinem Herzen aufzublühen, sobald er, bisher ein müßiger Zuschauer, selbst mitspielen würde im Drama des wirklichen Lebens.
Fast alle jungen Mädchen werden hingerissen von den süßen Versprechungen eines anmutigen Äußeren; aber wäre auch Eugénie klug und beobachtend gewesen wie so manche Provinzmädchen – hätte sie wohl ihrem Cousin mißtrauen können, bei dem Manieren, Worte und Handlungen noch so völlig mit den Regungen des Herzens übereinstimmten? Ein schicksalsschwerer Zufall fügte es, daß sie die letzten Ausflüsse echten Gefühls, die noch in seinem jungen Herzen lebten, erleben mußte, daß sie gewissermaßen die letzten Seufzer seines sterbenden Gewissens hörte.
Sie ließ ab von diesem Brief, der ihr so voll von Liebe schien, und betrachtete mit inniger Teilnahme den Schlafenden. Sie sah auf diesen Wangen noch die Farbe der Jugendfrische, der Verheißung; sie gab sich selbst den heiligen Schwur, ihn immer, immer zu lieben. Dann wandte sie sich dem zweiten Brief zu, und ihre Indiskretion bedrückte sie nicht mehr; wenn sie auch diesen Brief las, so geschah es, um noch weitere Beweise zu sammeln für die edlen Eigenschaften, die sie – wie das alle Frauen tun – dem Manne zu verleihen liebte, den sie erwählt hatte.
›Mein lieber Alphonse! Wenn Du diesen Brief erhältst, werde ich nicht einen Freund mehr besitzen; doch ich gestehe Dir: wenn ich auch an allen zweifle, die gewohnt sind, dies Wort im Munde zu führen, so habe ich doch an Deiner Freundschaft nie gezweifelt. Ich ersuche Dich daher, meine Angelegenheiten zu ordnen, und ich zähle darauf, daß Du aus allem, was ich besitze, so viel als möglich herausschlägst. Ich muß Dir nun meine Lage eingestehen: ich habe nichts, nichts mehr und will mich nach Indien einschiffen. Ich habe soeben an alle Leute geschrieben, bei denen ich noch Schulden zu haben glaube, und Du findest hier die Liste der Betreffenden
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