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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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dir nun passt oder nicht.
    Ich weiß. Im Grunde bin ich ihm nicht einmal böse. Es wäre nur schön, wenn er sich irgendwie überwinden könnte …
    Sie trat an den Schreibtisch ihres Mannes. (Er saß oben und brütete vor sich hin.) Neben dem Telefon lag die Visitenkarte des netten Herrn Strik. Sie hob den Hörer ab.
    Ich rede mit ihm, sagte ihr lieber Freund. Erzählen Sie ihm aber
nicht von unserem Gespräch. Und machen Sie sich wirklich keine Sorgen. Ich kenne Ihren Andrjuscha inzwischen in- und auswendig …
    Das Telefon klingelte.
    Wlassow, sagte Wlassow.
    Kennen Sie Rilke, mein lieber Freund? Natürlich nicht. Sie kommen vom Land. Nun, eines seiner Gedichte geht mir heutzutage nicht mehr aus dem Kopf. Es heißt »Herbsttag« und geht so: Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß … Und in der letzten Strophe gibt es dann eine Zeile, die lautet: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
55 Verstehen Sie, worauf das hinaus will, Andrej Andrejewitsch?
    Die Stimme wurde streng. – Verstehen Sie das?, habe ich gefragt.
    Oh, ich halte noch ein wenig durch. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich bin nicht …
    Darum ging es mir nicht. Sie müssen jetzt an Heidi denken. Die Zukunft, die Sie sich aufbauen, muss auf Treue gegründet sein und …
    Wlassow legte auf.
    Nach dem Attentat auf den Führer vom 20.7.44 wurden mehrere Unterstützer Wlassows hingerichtet. Mit ihnen allen war Heidis Mann gut bekannt gewesen. – Die kenne ich nicht, so lautete sein Epitaph für sie. Sie sehen, ich bin durch die Schule Stalins gegangen.
56
    Als Paris am 25.8.44 vom anglo-amerikanisch-jüdischen Feind eingenommen wurde, legte Wlassow sich hin und wollte träumen. Heidi war gerade nicht zu Hause. Zum in der Sonne Liegen hatte sie keine Zeit mehr, so dass ihre Brüste nun so blass leuchteten wie die Laternen unserer militärischen Stellungen. O ja, sie wurde langsam mager; sie hatte Farbe verloren. Und nun war auch noch die kleine Frauke krank. Unterdessen hatte Wlassows Redlichkeit sich bereit erklärt, ihn noch ein letztes Mal zu treffen, um ihr Abschiednehmen auszudehnen oder abzuschließen, und so befand Wlassow sich den ganzen Vortag über in einem Zustand verrückter Euphorie, denn bis zum Ende ihrer bevorstehenden Begegnung konnte er sich einreden, dass sie ihn wieder aufgenommen habe und wirklich wieder die Seine sei; gewöhnlicherweise würden sie an diesem Ort und zu dieser Zeit nicht miteinander intim werden, also war es nicht so, als hätte sich etwas geändert; ihre Begegnung wäre wie immer (außer dass die Begegnung diesmal keine Fortsetzung haben würde). Ich meinerseits halte einen gewissen Umschlag in Ehren, den ich selbst verschlossen und in meiner Schreibtischschublade begraben habe;
auf die Vorderseite habe ich geschrieben: GRÜNER STEIN . Dies hat sie auf unserer letzten gemeinsamen Reise am Strand aus dem Wasser gefischt , dazu das Datum. Sie hat zwei Steine aufgesammelt und mich gefragt, ob ich einen davon haben wolle. Ich habe diesen ausgewählt. Ich würde gerne wissen, ob sie da schon wusste, dass sie mich zwei Freitage später verlassen würde. Ich wage nicht, den Umschlag zu öffnen und den grünen Stein zu stören, den sie berührt hat, als sie mich noch liebte. Und wenn ich versuchen wollte, Ihnen noch mehr zu erzählen, könnte ich nur etwas von ihren großen braunen Augen stammeln. Was Wlassow angeht, wissen wir, dass er eine gewisse kupferne Patronenhülse in der Tasche hatte! (Genau wie Guderian gesagt hat: Diese Männer können sich von der Erinnerung an den Stellungskrieg nicht freimachen.) Trunken vor Glück ging er schlafen, träumte vom Ertrinken und wachte nach einer Stunde wieder auf. Den Rest der Nacht über starrte er weinend an die Decke.
    Am 8.9.44 empfing ihn endlich jener Himmler, der ihn einmal als »bolschewistischen Schlachterlehrling« bezeichnet hatte, und genehmigte ihm den Befehl über ein paar Truppen. Die Aktion sollte »Skorpion-Ost« heißen. Wlassow nickte. Himmler setzte für die Kamera ein feierliches, beinahe freundliches Gesicht auf, als er Wlassow die Hand schüttelte; Wlassow lächelte ernst; seine Verwirrung war so düster wie der Rauch aus einer Panzerbüchse. (Bitte denk dran, mir zu erzählen, was er anhat, bat Heidi ihn. Er war auf meiner ersten Hochzeit, weißt du. Ich fand, er sah wirklich todschick aus.)
    Auf diesem offiziellen Foto scheint Wlassow unbehaglich zumute zu sein. Aber schon in alten Zeiten schien sein Kragen fester zugeknöpft

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