Europe Central
Stricken, an denen man sie aufgehängt hatte. (Hatte er nicht einst das Eis auf Sojas Lidern gesehen, grau auf grau?) Und so fühlte unser vernünftiger Russe sich genötigt, den Krieg in seinem letzten Manifest als einen Endkampf einander entgegenstehender politischer Systeme zu definieren: Der Mächte des Imperialismus, angeführt von den Plutokraten Englands und der USA , der
Mächte des Internationalismus, angeführt von der Stalin-Bande, und freiheitsliebender Nationen, die danach dürsten, ihr eigenes Leben zu leben, bestimmt von ihrer historischen und nationalen Entwicklung.
59 Wer mochten diese freiheitsliebenden Nationen sein? Nein, es gab Dinge, die er nicht leugnen konnte. Und so kam nun wie ein Truppentransportzug, der bei seiner Ankunft noch den hintersten Bahnsteig verfinstert, vor seinen Augen eine Frage zum Stehen und verstellte ihm augenblicklich jeden Blick auf Russlands Zukunft.
Und was ist mit den Juden?, fragte er zum allerletzten Mal.
Strik-Strikfeldt klopfte ihm traurig auf die Schultern und erwiderte: Alle Gebiete in deutscher Hand werden von Juden gesäubert, eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen.
Aus politischen Gründen? Was heißt das genau?
Sie wissen sehr wohl, mein lieber Freund, dass im Osten alle Antisemiten sind. Und diese, nun, nennen wir sie Pogrome, sind eine billige Art, das Vertrauen und die Gefolgschaft eurer Weißrussen zu gewinnen.
Aber die Juden …
Für sie ist es besser so. Sie sind schließlich unsichere Elemente. Wohin sollten wir ihnen zu gehen erlauben? Es ist besser, sie aus dieser Lage zu erlösen.
Wlassow blickte ihn freundlich an. – Wie geht es Ihnen dabei, Wilfried Karlowitsch?
Das ist unwichtig. Nein, gehen Sie noch nicht. Ich habe noch richtig guten Cognac hier, und jetzt, da die Amerikaner Paris in der Hand haben, glaube ich kaum, dass wir noch welchen bekommen werden, also können wir genauso gut – hier. Ich habe wohl geahnt, dass Sie irgendwann diese Frage stellen, aber …
Ja, sagte Wlassow atemlos. Ich weiß, was Sie denken. Sie wollen wissen, warum ich nicht schon viel früher gefragt habe.
Das haben Sie.
Schon, aber …
Nun, auch daran habe ich gedacht, bestimmt. Er wird mich fragen, dachte ich. Aber dann … Ich habe vom ersten Augenblick an versucht, Sie zu schützen, weil ich wusste, Sie sind ein anständiger Mensch, und solange Sie nicht zu viel wussten, konnten Sie sich davor bewahren, was von Vorteil ist, wie immer man die Sache auch betrachtet. (Glauben Sie, ich habe mich davor bewahrt? Nun, im Grunde …) Also, wenn ein ein
ziger russischer Kriegsgefangener gerettet wird, ist das unterm Strich ein Gewinn, oder? Ich weiß aus inoffiziellen Quellen, dass schon drei oder vier Millionen in Gefangenschaft umgekommen sind …
Keine Sorge, sagte Wlassow. Wir bleiben Freunde. Nur … Aber ich will Sie etwas fragen. Was Sie mir über das Massaker von Katyn erzählt haben, das ist – bestätigt?
Ha ha! Ich kann sehen, wie Sie mit den Fingern in der Tasche herumspielen. Sie spielen mit ihrer Patronenhülse. Ja, ganz bestimmt!
Dann ist es gut, sagte Wlassow herzlich. Dann ist es mir gleich. Wir sind alle Mörder. Und wenn ich nicht in Verzweiflung versinke, kann ich vielleicht noch etwas Gutes tun. Aber was ist mit Heidi? Wollten Sie …
Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund. Ich wollte Ihnen nur Sicherheit geben und Sie vielleicht ein wenig ablenken. Haben Sie sie denn nicht lieb? Wenn nicht, dann kann ich …
Das Radio brüllte: Zur Auffrischung unseres deutschen Blutes … – Er ging, seinem arischen Weib über das blonde und seidige Haar zu streichen.
33
Ich weiß, sagte Heidi. Natürlich weiß man nie richtig, was man fühlen soll. Ich habe diese Phase mit meinem ersten Mann durchgemacht. Du musst dich abhärten, Andrej.
Die Bombenangriffe auf Berlin wurden jetzt heftiger.
Im Oktober 1944 eroberten die Russen die erste deutsche Stadt. Sie nahmen fröhlich Rache, schlugen Babys die Köpfe ein und nagelten nackte Frauen an Scheunentore. Heidi, die nun die Zündung der Motoren von Messerschmitt-Kampfflugzeugen verkabelte, hörte im Radio, dass man die Männer zwang, die Lampe zu halten und zuzusehen, wie Horden von Rotarmisten ihre Frauen vergewaltigten. Männer, die sich wehrten, wurden kastriert; Frauen, die sich wehrten, riss man die Eingeweide aus dem Leib. Als die Deutschen den Ort wieder einnahmen, fanden sie auf einem Feld Reihen von Frauen und Kindern mit glänzenden Patronenhülsen
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