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draußen unterstellt hatte. Wie sollte er mit ihnen umgehen? Dies war sein erstes großes Kommando. Coca hatte ihn vor dem Neid der anderen gewarnt. Das sei ihm egal, hatte er erwidert. Er wolle nur seine Pflicht tun. Sie hatte liebevoll ungläubig gelacht und ihm die Haare zerwühlt. Auf dem Kaminsims hatte sie schon einen Platz für seinen Marschallstab reserviert. Erst Beethoven auf dem Grammophon,
dann Bach. Er beugte sich über den täglichen Feindlagebericht von Fremde Heere Ost, Gruppe I , Sektion Heeresgruppe Süd. Der Signalaufklärungsbericht lag bei; er enthielt die Abschriften der jämmerlich flehenden Funksprüche eingekesselter Formationen der Roten Armee, gefolgt von den ebenso verzweifelten Drohungen ihrer Kommandeure: Rückzug wird nicht geduldet … Das konnte man mit Sicherheit keine erstklassige Truppe nennen. Die Ordonnanz stand mit einem Paar weißer Handschuhe bereit. Er wandte sich der Karte unserer eigenen Stellungen zu. Die 6. Armee näherte sich Kalatsch, während die 4. Armee nach Nordosten auf Stalingrad vorrückte, eine Stadt, die er definitiv umgehen wollte, falls der Führer ihm keine anderen Anweisungen erteilte; wie Moskau und Leningrad würde es sich von selbst ergeben. (Mit Moskau als Ziel des Falles Blau wäre ihm noch immer wohler gewesen.) Die Hauptsache war der Vormarsch nach Südosten auf die Ölversorgung des Feindes, hinweg über die Weizenfelder, die so kahl waren wie die Köpfe ukrainischer Kosaken. Er tendierte dazu, die 6. Armee in nördliche und südliche Angriffsgruppen aufzuspalten, wollte aber lieber noch einmal darüber schlafen. Und nun zurück zu seiner Analyse der Wolga. Das Westufer dieses Wasserlaufs war, wie die Karte belegte, höher als das Ostufer – das kam ihm zupass. Die Ordonnanz, die zufällig sehr eitel war und davon träumte, ihr Foto in der Illustrierten Signal wiederzufinden, kam, um ihm die Laterne auf dem Feldschreibtisch anzuzünden. – Und sagen Sie Generalmajor Schmidt, dass ich morgen die Aufstellungen für den Nachschub brauche. – Zu Befehl, Herr General, antwortete die Ordonnanz fröhlich. Und nun war Paulus wieder mit seinen Karten allein. Er musste jetzt noch länger arbeiten als in den Tagen seiner Abordnung ins Panzerhauptquartier in Berlin; Coca wäre empört, wenn sie wüsste, wie wenig Ruhe er fand. Aber er wagte nicht, die Zügel zu lockern. Rastlos versuchte er, Nachrichten von der Front zu bekommen. Auf dem Höhepunkt des Unternehmens Sonnenblume hatte er in Tobruk Generalleutnant Rommel beobachtet. Bis heute war er schockiert, wie sehr dieser Offizier das Schicksal herausgefordert und seine Weisungsbefugnis überschritten hatte. Aber das Glück war auf Rommels Seite gewesen; in diesem Monat hatte der Führer ihn zum Feldmarschall ernannt. (Feldmarschall zu werden bedeutete auf gewisse Weise das ewige Leben.) Paulus seinerseits glaubte weniger an Glück als an Fleiß. Und so saß er noch in seinem Zelt, als die
meisten seiner Soldaten schon schliefen, und hing über den Karten wie ein Kampfpilot am Sowjethimmel, während der Mond im heißen Dunkel über ihm leuchtete wie von Reichenaus Glasauge. Unsere Trauer ist Stolz, unsere Demut Pflicht. – Nun, Paulus, sagen Sie mir, welche Befehle ich jetzt erteilen werde? – Das war es, was der Feldmarschall immer gesagt hatte! (Paulus war ihr Vorgehen in den besetzten Gebieten zu skrupellos erschienen, aber von Reichenau hatte ihn ermahnt: Sie haben keinen Grund, aus der Slawenfrage ein Problem zu machen.) Er glaubte noch immer, dass die russische Befehlsstruktur sehr wohl in den nächsten vier bis sechs Wochen zusammenbrechen könnte; dann würde Russland das deutsche Indien werden, hatte unser Führer gesagt. Was für Befehle sollte er bis dahin ausgeben? (Die Ordonnanz trat ein, um nachzusehen, ob er noch Zigaretten brauchte.) Er wusste ganz genau, dass weder Rommel noch von Reichenau die Karten so gründlich studiert hatten wie er. – Du bist zu gut für solche Menschen, sagte Coca immer.
Die Ordonnanz brachte ein Telegramm der Obersten Heeresleitung. General von Küchler war für seine Rolle beim Zurückschlagen der feindlichen Gegenoffensive im vergangenen Winter zum Feldmarschall befördert worden.
Am Tag darauf, als von Manstein für die Einnahme Sewastopols zum Feldmarschall befördert wurde, spürte er die Nadelstiche des Neides, ein Ansporn von ganz eigenem Reiz: Wenn dieser Titel so oft verliehen wurde, warum dann nicht auch ihm? Coca würde so stolz auf ihn
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