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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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ausschließen musste; er glaubte ihr, dass sich die Lage in Rumänien etwas anders darstelle. Coca verfügte über die wundervolle Fähigkeit, an allem die Komplexität sichtbar zu machen; auf ihrer Hochzeitsreise war Cocas Seele gewachsen und um sie herum aufgeblüht, bis er sich wie in einem sommerlichen Kirschgarten vorgekommen war, erfüllt von einem herrlich erdrückenden Gefühl der Überwältigung; er hatte sich immer danach gesehnt, loslassen zu können, sich fallenzulassen in etwas, das größer war als er selbst; und im Kopf arbeitete er ganz automatisch jede Frage in all ihren Facetten aus; wenn er also bei Coca war, die zwanzig Facetten in zwanzigtausend verwandelte, wurde ihm schwindelig, wenn er nicht aufpasste; also versuchte er immer zu vermeiden, sie mit hineinzuziehen, wenn er ratlos war; das, was er ohne falsche Scham ihre Überlegenheit nannte, hätte seine Ratlosigkeit nur vervielfacht. Er hielt sich zurück; er rückte vor, genau wie in Schitomir und Kiew im vergangenen Sommer; er nahm unter seinen Panzerketten noch mehr Russland in sich auf, und der Feind setzte Funksprüche ab: Genosse Kommandeur, ich bitte um Hilfe! , oder: Genosse General, was sollen wir tun? Bisher hatten sie sich in starre Verteidigungsstellungen
verschanzt, das war ihre Schwäche gewesen. Jetzt hatten sie endlich gelernt, wegzulaufen.
    Am 5.7.42 drangen unsere Truppen nach Woronesch ein, während Paulus durch Ostrogoschsk rollte. Faktisch hatte er die Südfront des Generals Timoschenko zerschlagen, und der feindliche Kommandeur tat ihm beinahe leid. Phase I des Falles Blau war beinahe abgeschlossen. Vorgestern hatte er wieder vierzigtausend Gefangene gemacht. Hinter ihm lagen tote deutsche Soldaten zwischen ihren brennenden Panzern aufgereiht. Man würde sie begraben, jeden unter einem Kreuz; sollten die unterworfenen Völker nach dem Endsieg all die Friedhöfe pflegen! Was die toten Russen anging, derer würden sich die Bauern annehmen oder auch nicht. In einer Woche würden überall Kreuze aus zusammengebundenen Baumschösslingen stehen, manche sogar zu Speeren angespitzt, und alte Babuschkas mit Kopftüchern würden davor beten, zumindest bis die Einsatzgruppen sie verjagten.
    Sie kesselten zwei weitere feindliche Armeen ein und löschten sie aus – dafür mussten noch mehr Deutsche sterben. In der Ruine eines Hauses saßen drei alte Frauen und sahen zu. Auf lange Sicht, das wusste er sehr wohl, würde das Problem der nachlassenden Truppenstärke unlösbar sein, aber für den Augenblick konnte die 6. Armee noch Soldaten genug in den Kampf werfen. – Wir schaffen es schon, Herr Generalleutnant! Das sagte Generalmajor Schmidt immer. Dieser Schmidt war seit Juni bei ihm Stabschef, und sein schneidiger Optimismus machte einen guten Eindruck. Die Frage blieb, wie viel weitere russische Armeen es noch gab? Am Vorabend des Unternehmens Barbarossa hatte die Gruppe I von Fremde Heere Ost kalkuliert, dass im europäischen Teil Russlands nicht mehr als elf stünden. Die anderen – neun oder zehn vielleicht – würden nie in die Kampfzone verlegt werden, weil Stalin einen Angriff der Japaner befürchtete. Auf wie viele Armeen kam man also?, schloss Fremde Heere Ost.
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    Stalin schien seine Truppen zurückzuziehen. Vielleicht hielt er den Fall Blau noch immer für eine Finte. Jedenfalls gab es noch keine entscheidenden Zusammenstöße, nicht einmal bei Beginn der Phase II .
    Am 6.7.42 setzten wir über den Don. Am 9.7.42 brachen unsere Truppen schließlich in Woronesch, einem sehr wichtigen Eisenbahnknoten
punkt, den letzten Widerstand, und noch mehr offene Waggons voller russischer Gefangener rollten nach Westen in die Konzentrationslager, womit die Operation Wilhelm abgeschlossen war; aber da diese Schlacht vier Tage in Anspruch nahm, äußerte der Führer, wie Paulus hörte, starkes Missfallen an Feldmarschall von Bock. Wie alle anderen hielt er den Kalender im Auge. Nach der Misere des Angriffs auf Moskau wusste jeder, dass man Russlands goldene Sommertage besser nicht ungenutzt verstreichen ließ. Deshalb musste der Fall Blau spätestens Ende Oktober abgeschlossen sein. Paulus konnte kaum bestreiten, dass der Führer alles Recht hatte, verärgert zu sein. Der Feind hatte die Verzögerung für einen geordneten Rückzug nach Osten genutzt, so dass die Einnahme von Woronesch, so notwendig sie gewesen sein mochte, in Deutschlands gierigem Mund einen bitteren Nachgeschmack hinterließ. Auch die Einnahme von Kalatsch

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