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konnte sich schwierig gestalten. Fremde Heere Ost, Gruppe I , Heeresgruppe Süd zufolge verfügte der Feind dort noch immer über zwölf Infanteriedivisionen und fünf gepanzerte Brigaden. Obwohl er allein im Stabswagen saß, trat ihm ein verlegenes Lächeln auf die Lippen. Er wollte nicht als der Mann bekannt werden, der an der Eroberung von Kalatsch gescheitert war. Generalmajor Schmidt hatte ihm schon ungefragt seine Meinung mitgeteilt, die Soldaten der 6. Armee könnten sogar noch größere Strapazen schultern. Unsicher, ob er den Eifer des Mannes loben oder eine versteckte Unterstellung zurückweisen sollte, erwiderte Paulus nach einer Pause und vielleicht ein wenig trocken: Der Wille der 6. Armee, sich anzustrengen, steht außer Frage. Das ist für heute alles, Schmidt. – Er erhöhte die Häufigkeit seiner Frontbesuche, aber da er kein Effekthascher war wie die Feldmarschälle von Manstein und von Reichenau, wollte er dabei von seinen Soldaten nicht gesehen werden. Er wusste noch, wie sein Vater alles überwacht hatte, was er tat; so viel Misstrauen wollte er den Menschen nicht entgegenbringen. Sein Biograf Görlitz schreibt, er habe in dieser Zeit häufig erschöpft und verbraucht gewirkt. Er stand mitten in der Vorbereitung der Operation Fridericus II , die den feindlichen Stützpunkt Kupjansk auslöschen sollte. Coca hätte sich Sorgen um ihn gemacht, obwohl sie hätte wissen müssen, wie so etwas war; zwei ihrer Brüder waren Offiziere gewesen. Manchmal kam die 6. Armee aus einer der von Erdwällen umgebenen russischen Bauernhütten unter Beschuss, und anstatt weitere Verzögerungen zuzulassen, ging
Paulus zu der extravaganten Lösung über, mit einer Panzerabwehrgranate zu antworten, denn im Krieg muss man, wie bei jedem anderen Unternehmen, etwas einsetzen, um etwas zu bekommen; man setzt Zeit ein, Truppen oder Material. Von den dreien war gegenwärtig die Zeit, die goldene Zeit am kostbarsten. Die Sklavenarbeiter aus den Ostgebieten konnten immer Panzergranaten produzieren, aber der Sommer verstrich, ach, er verstrich.
Am 15.7.42 nahm der Führer am Fall Blau eine Änderung vor. Er hatte Feldmarschall von Bock das Kommando über die Heeresgruppe A entzogen, wegen Zaghaftigkeit und Insubordination. (Meiner Ansicht nach, sagte Generalmajor Schmidt, hatte er immer etwas Halbherziges an sich.) Aber das war in Wahrheit eine reine Pro-forma- Entscheidung gewesen; in Ungnade war von Bock eigentlich schon, wie Paulus sich nur zu genau erinnerte, damals in Poltawa gefallen, in der Besprechung an jenem Tag mit dem Teerölduft, als alle sich um die schneeweiße Karte versammelt hatten – und da erinnerte Paulus sich plötzlich, dass seine Frau, die wirklich sehr belesen war, eine ganz in ein ähnliches Schneeweiß gebundene Gesamtausgabe der Werke Puschkins besaß; und einer dieser Bände (er konnte ihn fast vor sich sehen) hieß Poltawa. Sein Erinnerungsvermögen war bei kleinen Details nahezu fotografisch: Bei einem Blick auf eine Karte von, sagen wir, Stalingrad riefen ihm verschiedene Details der Topografie die feindliche Truppenstärke auf jedem Stützpunkt und alle Vorkehrungen der 6. Armee ins Gedächtnis, sie zu schwächen; im Fall von Poltawa , für ihn buchstäblich ein verschlossenes Buch (auch wenn er sich gern von Coca vorlesen ließ, hatte er nie viel Zeit für Poesie gehabt, auch in Friedenszeiten nicht), stellten sich Erinnerungen an das sanfte deutsche Sonnenlicht ein, die so weit zurückreichten, dass dieses Licht ihm strahlender vorkam, als es je gewesen sein konnte; in jener untergegangenen Zeit, bevor unser Führer an die Macht gekommen war, die nun so verträumt wirkte, hatten diese weißen Bände in ihrem Schlafzimmer ein ganzes Regal eingenommen, und was er erinnerte, war wohl, wie er vermutete, einer jener Sommermorgen, an denen Coca an seiner Schulter schlief und er mit seinen weitsichtigen Augen die goldenen Buchstaben auf dem Rücken der weißen Bücher entzifferte; deutsch waren sie nicht. Anders als die meisten von uns konnte er das kyrillische Alphabet lesen, und obwohl er nicht wusste, was die Worte bedeuteten, warf seine Fä
higkeit zur Transliteration doch überraschend oft etwas Nützliches ab, gerade heutzutage natürlich, bei der Durchsicht erbeuteter feindlicher Dokumente; wahrscheinlich langweilte er sich ein klein wenig, aber er hatte nicht das Herz, Coca zu wecken; wo waren die Kinder? Sie müssen noch ganz klein gewesen sein. Besonders Ernst wollte immer zu ihnen ins
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