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meiner Laufbahn als Richter habe ich oft irgendeinen armen Wicht an den Galgen bringen müssen. Von einem individuellen, menschlichen Standpunkt aus hat er vielleicht nichts Böses getan, und niemand wird je ahnen, wie viel Mitgefühl ich mit ihm hatte. Zum Beispiel hatte die Mutter eines Burschen Krebs und starb eines qualvollen Todes. Man konnte nichts für sie tun; wegen dieser verdammten Sanktionen von Versailles gab es in den Apotheken nicht einmal Opiate zur Schmerzlinderung. Also erstickte er sie mit einem Kissen – aus reiner Liebe, verstehst du, Kurt? Aber man muss seine Pflicht tun.
Angenommen, du hättest dich geweigert, ihn zu verurteilen …
Dann hätte ich zuerst einmal Berufsverbot bekommen können, und ich weiß nicht, was dann aus Mutter und euch Kindern geworden wäre. Wir waren schon arm genug, von der Schande ganz abgesehen. Solche Dinge darf man nie aus dem Blick verlieren. Aber von meinen offensichtlichen Pflichten als Familienvater einmal abgesehen, lautet das übergeordnete Prinzip wie folgt: Wenn der Mann, der seine Mutter aus Liebe erstickt, freigesprochen wird, kannst du darauf wetten, dass der Mann, der seine Mutter aus Hass erstickt, das ausnutzen wird!
Aber es gibt noch immer einen Unterschied …
Und du streitest weiter gegen mich, deinen eigenen Vater! Du stehst gegen uns alle. Aber wofür genau stehst du?
Vergib mir, Vater, aber dieser Unterschied …
Einen Unterscheidung sehen wir nur, weil wir die beiden Fälle von Muttermord abstrahieren; wir lassen sie hypothetisch werden, damit wir Gott spielen und den Angeklagten in die Herzen schauen können. Aber im wirklichen Leben werden wir ihre wahren Motive nie kennen.
Aber du hast sie gekannt.
Ja, ich glaube, ich bin mir nach menschlichem Ermessen sicher , dass der Mann, den ich zum Tode verurteilt habe, Sterbehilfe geleistet hat; und die heutigen Gesetze unseres Landes könnten sehr wohl erlauben,
dass man diese Mutter von ihren Leiden erlöst, vorausgesetzt, es ist das Reich selbst, das …
Da wir gerade davon reden, Vater, ich habe herausgefunden, dass Bertha in Hadamar euthanasiert worden ist.
Du unterbrichst mich. Und wenn schon? Das arme Mädchen, jetzt hat sie es besser! Hast du vergessen, wie sie sich immer in der Kirche angefasst hast? Ich hoffe, du besitzt den Anstand, das nie Elfriede zu erzählen. Worum es geht, ist, wir dürfen uns nicht anmaßen, Gott zu spielen. Die Entscheidung, wer leben soll und wer nicht, obliegt nicht uns.
Vater, sagte Kurt Gerstein verzweifelt, ich an deiner Stelle hätte mein Amt aufgegeben.
Schäm dich! Dass ich mir so etwas von meinem eigenen Sohn …
Vergib mir, Vater. Ich wollte nicht …
Warum gibst du dann deines nicht auf?
Ich werde weiter zu meiner Verantwortung stehen, erwiderte der blonde Mann mit Festigkeit, und dann, um das Gespräch zu entschärfen, fragte er: Übrigens, wo ist Friedel?
Einkaufen, einkaufen, sagte der alte Herr, milde abwinkend.
Gerstein lächelte und versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. Friedel stand vermutlich nach mit Wasser verdünnter Milch an.
Anders als du, fuhr sein Vater fort (Ludwig Gerstein ließ sich nie von einem Thema abbringen), kneife ich nicht. Als Richter habe ich meine Pflicht getan, wie schmerzlich es mir auch gewesen sein mag. Außerdem habe ich im letzten Krieg an der Westfront gekämpft, Kurt; du kannst dir nicht vorstellen, was ich erlebt habe …
Fast hätte der Sohn gelacht. – Nein, Vater. Das kann ich mir nicht vorstellen.
Ich habe meine Pflicht getan, und ich habe nie Gott gespielt. Ich habe mir die Demut bewahrt, die sich für einen Menschen schickt.
Und du glaubst nicht, dass wir unsere Entscheidungen selber treffen sollten?
So wie Adam und Eva ihre Entscheidungen getroffen haben, gegen das Gebot Gottes? Und so wie die Bolschewisten heute ihre Entscheidungen treffen? Hast du das Massaker im Wald von Katyn vergessen? Das war ihr blutiges, blutiges Werk, vor dem unser Führer uns bewahrt …
Kurt Gerstein flüsterte: Wir müssen uns entscheiden, so wie Jesus sich entschieden hat.
Nein, sagte sein Vater, das ist eine reine Wunschvorstellung. Du bist nicht Jesus. Was du dir denkst, ist unmöglich.
Sein Vater, der an die wachsende Schlagkraft unserer Luftabwehr glaubte, war nie wie er gewesen: Von Geburt an war Kurt Gerstein immer ängstlich gewesen wie ein Jude.
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Im Juli '44 druckte eine Schweizer Zeitung einen Artikel über die Lage der ungarischen Juden unter der Überschrift
40 Ein ungenannter
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