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Meiner Meinung nach ist es besser, weniger Juden pro Tag auf verlässliche Weise umzusiedeln, als auf einen unkontrollierbaren und extrem gefährlichen Giftstoff zu setzen …
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, aber ich bin anderer Meinung. Wir müssen vorankommen. Leider haben wir nicht genug Leute, um sie zu erschießen … Nun, das ist nicht Ihre Sorge, ich weiß. Wir arbeiten alle dem Führer zu, so gut wir können. Aber ich muss Sie warnen, Gerstein: Wenn das noch einmal vorkommt und wir wieder auf Dieselmotoren zurückgreifen müssen oder, Gott bewahre, auf Kleinkaliber-Waffen, werde ich Meldung machen. Haben Sie gehört?
Natürlich, Herr Kommandant, und ich möchte Ihnen noch einmal versichern, es liegt nicht in meiner …
Wissen Sie, was mir so seltsam vorkommt? Der größte Teil unseres Zyklon B stammt aus dem Hygiene-Institut von Dr. Mrugowsky. Und sein Gas scheint nie zu verderben. Wer ist Ihr Lieferant?
Ein Dr. Peters von der Firma Degesch. Herr Kommandant, Sie müssen wissen, dass ich in dieser Sache bereits bei ihm vorstellig geworden bin. Offenbar können schon mikroskopisch kleine Verunreinigungen in den Kanistern dazu führen, dass …
Schon gut, schon gut, seufzte Kommandant Höss. Wir wollen keine Verunreinigungen …
Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache, Herr Kommandant.
Keine Angst, sagte Höß gelassen. Wenn Sie mir wirklich Umstände machen würden, hätte ich bestimmt schon Meldung gemacht. Nach Lage der Dinge, Gerstein, ist die Menge, die Sie liefern können, im Ver
gleich zu der von Dr. Mrugowsky so verschwindend gering, dass diese Unterbrechungen den Betrieb hier nicht aufhalten. Sie bleiben doch zum Mittagessen?
Mit Vergnügen, Herr Kommandant. Ich …
Kein Wort mehr. Keine Angst. Im Augenblick wird hier niemand Meldung machen. Ich erwarte Sie Punkt 13 Uhr 15. Heil Hitler!
Heil Hitler!
So ein gutaussehender Junge!, dachte Höß bei sich, als er seinen Weg zu den Krematorien fortsetzte.
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Jetzt wagte er nicht mehr, die Blausäure zu zerstören. Und so wurde er zum Komplizen, urteilt die Weltgeschichte.
Als Diabetiker litt er an Ohnmachtsanfällen. Auch seine Brüder von derverloren den Mut; sie betranken sich öfter denn je und sagten einander: Wenn ich nur vorher gewusst hätte, wo das alles endet … – In seinen Träumen sah er Berthas Schädel, der weinte; die Tränen trockneten und hinterließen auf der mit Patina überzogenen Kuppel des Glockenturms ihrer Knochenkirche eine weiße Kruste. So wie die Schützengräben immer flacher wurden, je näher man der Front kam, wurde auch seine Abwehr gegen die Dinge, die er gesehen hatte, schwächer, und sein geheimes Leben bot ihm immer weniger Schutz. Man kann es auch anders ausdrücken: Je weiter wir nach Osten kommen, desto primitiver wird die Kultur, desto mehr sinkt der Wert des Lebens. Der barocke Zierrat Prags zum Beispiel ist plumper als die geschmeidigen Marmorputten Wiens. Wenn wir einmal in Leningrad sind, gibt es überhaupt nichts mehr, nur noch ein qualmendes Massengrab mit Schnee und Trümmern als einziger Zier – der offene Beweis für das Untermenschentum der Slawen. In der Kaprova-Straße in der Prager Josefstadt, nicht weit vom Büro des »Schlauen Hans« Günther, breitete an einem Mauervorsprung ein hohes dünnes, mumienartiges Relief die dürren Arme aus; ein harmloses christliches Symbol, mit Ketten und Fischen geschmückt, aber für Gerstein war es ein toter Jude, der dort hing und ihn verfolgte. (Keine Feigheiten bitte!, hätte Hauptmann Wirth gesagt.) In Berlin sprang ihn zum Glück keine Buchhandlung mit dem
Wortan; aber anderes erschreckte ihn ohne Vorwarnung. Seine Anklage gegen das Hitler-Regime war nun so säuberlich weiß, ordentlich und endlos wie ein deutscher Friedhof im Dezember in Stalingrad. Wenn die Gestapo sie fand, würde er sich glücklich schätzen müssen, wenn sie nichts Schlimmeres taten, als seine Familie und ihn alle zu erschießen … In seinem Büro läutete das Telefon und sagte: … der Block wird nach Verdächtigen durchsucht …
Erneut suchte er Monsignor Orsenigo auf und versuchte, Kontakt zum Papst aufzunehmen, erneut wurde er abgewiesen. Voller Schmerz brach es vor seiner Frau aus ihm heraus: Welches Vorgehen gegen den Nationalsozialismus kann man von einem gewöhnlichen Bürger verlangen, wenn selbst der Stellvertreter Gottes auf Erden mich nicht anhören will?
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Hör mir zu, Kurt! Hör mir bitte, bitte zu! Niemand verlangt von dir das,
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