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dann so rund …
Einen Monat darauf wurde er wieder nach Prag beordert, für die Übergabe eines weiteren Koffers. Er hatte noch zwei Stunden, bis sein Zug ging. (Da waren seine Kameraden, marschierten in einer Reihe,
so gerade und grandios wie die dorischen Säulen von Schinkels Neuer Wache.) Diesmal führten ihn seine Schritte vor die antike Uhr in einem Antiquitätengeschäft, vor nackte Porzellanbrüste, Ketten aus falschen Perlen und die schwarzen Roben toter Frauen. Etwas für seine Frau … Er erlaubte sich die Vorstellung, wie Christians Augen geleuchtet hätten, hätte er ihm das Kreuz vom Orden des Weißen Adlers aus dem achtzehnten Jahrhundert umgehängt, das Hauptmann Wirth ihm aufgedrängt hatte; Jungen begeistern sich immer für Militaria, und dies war ein achtzackiger Stern aus Gold , mit Silber und Diamanten besetzt! Er hätte ihn verkaufen sollen, um seine Familie zu ernähren. Stattdessen vergrub er ihn in der polnischen Erde und betete leise für den Vorbesitzer; hinter dem Schleier seiner Tränen verschwammen die Bäume wie im Regen. Regen aus Blut, Regen aus Stahl, Regen auf das sattgrüne Gras von Auschwitz! Tränen wie Gebete sollen die Seele erquicken.
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Wie Himmler trug er nun heimlich eine Zyankalikapsel bei sich; ich glaube, er versteckte sie unter der Kappe seines Siegelrings. Genau wie die zusammenlaufenden Schatten der herbstkahlen Bäume in den Buchenwäldern Niedersachsens wie Gewehrläufe in das Dunkel zielen, aus dem sie gemacht sind, führten seine Gedanken ihn immer tiefer in Verwirrung und Verzweiflung: Da kommt Kurt Gerstein, der von Jugendtagen an die Unreinheit der irdischen Existenz immer zurückgewiesen hat, und inspiziert ein weiteres Vernichtungslager! Man ist versucht, Gerstein als Phantasten abzutun, schreibt der Historiker und Ethiker Michael Balfour. Ihm muss klar geworden sein, dass sein Vorgehen ohne Folgen blieb.
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Er zwang sich nun, alles mitanzusehen; manisch zählte er die Strähnen im Stacheldrahtverhau eines Durchgangslagers: eine weitere Fußnote zu seinem noch ungeschriebenen eidesstattlichen Bericht. Er stand über dem dunklen Haufen polnischer Juden, die sich auf den Marktplatz ihres Ortes kauerten und warteten, dassund Polizei sie umstellten und in den Tod führten. Während seine Kameraden sie bewachten, zählte Gerstein sie: siebenhundertundvierundzwanzig weitere Verbrechen für seinen Bericht. Und dann – weil er mit seinem Passierschein
mit Eichmanns Stempel kommen und gehen konnte, fast wie er wollte – fuhr er in den Lastwagen mit, weil er sehen wollte, wo die Massengräber waren. Er war dabei, versuchte, mit seinen Kameraden zu lachen, wenn sie die Juden nackt auszogen, verprügelten und erschossen. Ein alter Mann musste sich erleichtern, hockte sich in die Büsche und wurde von seinen Mördern übersehen. Gerstein flüsterte ihm zu, er solle sich im Wald verstecken. – Nein danke, Herr Obersturmführer, sagte der Jude kalt in vollendetem Deutsch. Ich ziehe die Gesellschaft meiner Frau und meiner Kinder vor. – Und dann zog er sich die Hosen hoch und gesellte sich zum nächsten Schub schlanker, gelbgesichtiger russischer Juden mit erhobenen Händen, bärtig, kniend, während die Ordnungspolizei lächelnd dabeistand und neben der erlegten Beute für Fotos posierte. Sie waren so entspannt wie bei einem sonntäglichen Ausritt im Tiergarten. In der Stadt blieb die Kirchenglocke unter ihrem Kreuz still und baumelte zwischen schweren hölzernen Stützen.
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Es war Abend, und er spazierte über das Gelände des alten Palasts. Gegen sieben wurde es langsam kühl, und die Springbrunnen waren wunderschön. Eine Mücke stach ihn in den Hals. Unter dem mit Blättern geschmückten Torbogen rauchte die Kartenabreißerin eine Zigarette nach der anderen und scherzte mit den vielen deutschen Offizieren. Dann erschien Bertha, mit dem letzten, siebten, eher hohen Glockenschlag der Uhr. Eine Stelle aus dem Tristan fiel ihm ein, bei deren Auslegung er dem Hübschen Heini geholfen hatte: Wer Isolden schaut ins Angesicht, dem läutert das Schauen Herz und Mut, recht wie die Glut dem Golde tut, und macht ihm heimisch Seel' und Leib – die Glut des Verbrennungsofens natürlich.
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Sie schloss jeden seiner Finger einzeln in die Hand, was ihn an seine Verhaftung anno 36 erinnerte, als sie ihn gezwungen hatten »Klavier zu spielen«, ihm also die Fingerabdrücke abgenommen hatten. Damals hatten sie ihn freundlich behandelt, weil er kein Jude war und weil
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