Europe Central
Freund schob Gerstein den Artikel unter der Tür hindurch. Sein Herz begann so wild zu schlagen, dass er Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Er warf sich auf sein Bett und las den Artikel durch, in der Hoffnung, nicht darin genannt zu werden. Zum Glück nannte die Ostschweiz als Quelle die polnische Exilregierung. Gerstein war natürlich enttäuscht.
Um dieselbe Zeit befreite die sowjetische 2. Panzerarmee das Konzentrationslager Majdanek. Die Soldaten stießen auf die Berge von Kleidung, den Erschießungsraum. Der Dokumentarist Roman Karmen, ganz ernst und korrekt in seiner Uniform mit Mütze, filmte die schmuddeligen, gefangengenommenen Nazis vor Block 2, die Kamera an den Körper gedrückt, als wollte er ihnen nicht zu nahe kommen;
41 das waren wir; er nahm uns von unten auf, unsere Stoppelbärte im Visier, um uns noch hässlicher erscheinen zu lassen als unsere Seelen. Er filmte die riesigen Kohlköpfe; er zeigte uns Nahaufnahmen der menschlichen Asche, mit der sie gedüngt wurden. Und Tausende von Russen sahen diesen Wochenschaubericht, Hunderttausende vielleicht. Die sowjetische Presse druckte lange Berichte. Und trotzdem wollten die Westalliierten es noch immer nicht glauben. Gerstein war verzweifelt. Was seine Kameraden anging, sie warfen jetzt kurze Blicke über die Schulter, fast als könnten sie die Russen kommen sehen.
Hauptmann Wirth, der aus irgendeinem Grund immer den Kopf in den Nacken legte, wenn er Heil Hitler! sagte, genau wie unsere Österreicher, schenkte ihm etwas ein und sagte: Um gleich zur Sache zu kommen, euer Günther da, den nennen sie nicht umsonst den Schlauen
Hans. Die ganze Zeit hat er sich darüber beschwert, dass er Stahleckers Untergebener ist. Sie sind Stahlecker doch nicht unterstellt, oder?
Nein, Herr Hauptmann.
Bei mir können Sie die verlogenen Formalitäten lassen, Gerstein; wir hängen hier alle zusammen drin. So sehe ich die Sache: Stahlecker kriegt den Schwarzen Peter. Sie werden sehen, Gerstein. Wenn dieser Krieg in den Arsch geht, steht der Schlaue Hans am Ende gut da, und alle Welt wird mit den Fingern auf Generalmajor Walther soundso Stahlecker zeigen, der diese ganzen Verbrechen an den Juden begangen hat! Aber wissen Sie was, Gerstein? He, sind Sie besoffen? Wissen Sie was?, habe ich gesagt. Ich will den Schwarzen Peter nicht haben. Jetzt hören Sie mal zu. Sie und ich, wir machen das so …
Aber Gerstein hörte ganz und gar nicht zu.
Er suchte weiter Kirchen heim, abenteuerlich wie ein Ritter, und sprach jeden Pastor an, der Predigten wider das Morden hielt; er zeigte fast jedem Besucher die dunkelgrauen Aktenordner mit den roten Ecken, auf denenstand und; und seine Kameraden marschierten in Dreierreihen rechts an einem Stacheldrahtverhau vorbei, ihre Totenkopf-Insignien milchweiß über den Milchgesichtern und den dunklen Uniformen; sie waren nicht alle blond wie Gerstein, aber sie marschierten im Gleichschritt, das Kinn gereckt, den Blick geradeaus; sie waren so zuverlässig wie ein deutscher Panzer. Und da kam Kommandant Rudolf Höß, auf dem Rückweg aus der Abteilung »Kanada«, mit hoch erhobenem Kopf, etwas Besorgnis in den freundlich-dummen Augen, mit dem hilfreichen Kurt Gerstein,-Obersturmführer Kurt Gerstein, wollte ich sagen, immer nebendran, leicht vorgebeugt, um dem Kommandanten ins Ohr zu flüstern, dass Teile des Zyklon B sich auf dem Transport zersetzt hätten und vergraben werden mussten, um jede Gefährdung der Vergasungsmannschaft auszuschließen.
Aber was wird Himmler sagen? Und das ist schon früher passiert. Sieht aus, als würden Sie mir meine Blausäure wegnehmen wollen, Gerstein! Ha ha! Ist das Zeug wirklich so gefährlich?
Ich fürchte ja, Herr Kommandant.
Nun, das wird unsere Effektivität beeinträchtigen! Sagen Sie, Gerstein, können Sie den Transportvorgang nicht verlässlicher machen? So wie ich das verstehe, liegt die prompte und zuverlässige Lieferung
dieses entscheidenden Neutralisierungsmittels wirklich in Ihrem Verantwortungsbereich.
Zu Befehl, Herr Kommandant!
Soweit ich weiß, haben Sie die improvisierten Übungseinsätze in Treblinka und Belzec beobachtet. Stimmt das?
Jawohl, Herr Kommandant.
Damals haben Sie Hauptmann Wirth beigepflichtet, der Dieselabgase dem Zyklon B vorzog. Ich habe Ihren Bericht gelesen. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass Sie solche Positionen vertreten haben. Halten Sie noch immer daran fest?
Herr Kommandant, wie Sie eben bemerkt haben, hat Zyklon B eine Neigung zu verderben.
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